Auf dem Weg zurück zum Auto zeigte ich Valentina die Photos von dem Herrn, der in der Nähe des Wärmekraftwerkes im Lager 280/16 in Gefangenschaft war. Nicht nur, daß sie von der Tatsache, daß noch Fotos aus der Zeit existierten, völlig erstaunt war, sie erkannte auch die auf einem Photo abgebildete Baracke wieder. Die existiere noch heute und ob ich die besichtigen wolle? Keine Frage! Also ging es mit dem gesamten Autokorso quer durch die Stadt zu diesem Gebäude. Eine angrenzende Baracke war gerade abgerissen worden und auch der vordere Teil der auf dem alten Bild sichtbaren Baracke existierte nicht mehr. Da man aber das Holz des Giebels wieder verwendet hatte, war die Ähnlichkeit mit dem auf dem Foto befindlichen Gebäude unverkennbar. Unglaublich!
Als nächstes fuhren wir zum die Stadt dominierenden Wärmekraftwerk Kurachowskaja TES. Einem Sicherheitsmann gefiel es überhaupt nicht, daß wir von dieser "strategisch wichtigen Anlage" Photos machten. Der stellvertretende Bürgermeister klärte die Lage mit einigen kurzen Sätzen.
Das Kraftwerk war 1939 erbaut und auf dem deutschen Rückzug 1943 gesprengt worden. Viele der in Kurachowo internierten Kriegsgefangenen wurden zum Aufbau dieses Kraftwerkes, respektive später zum Betrieb eingesetzt. Einer der von mir getroffenen Zeitzeugen erinnerte sich noch mit Schrecken daran, wie er auf Eisenbahnwaggons die gefrorene Kohle mit Brechstangen lösen und dann abladen mußte. Der andere Zeuge, von dem auch die Photos stammen und dem es in Kurachowo erheblich besser ergangen war, wäre im zum Kraftwerk gehörenden See fast ertrunken. An diesen Herrn mußte ich auch denken, als wir zurück in die Stadt fuhren: ein Großteil der Häuser in Kurachowo ist nämlich von deutschen Kriegsgefangenen erbaut worden und dieser Herr war vornehmlich im Häuserbau beschäftigt. Valentina sagte lachend, Kurachowo sei eigentlich eine deutsche Stadt, denn das Gros der Häuser sei von Deutschen erbaut.
Nach dem Besuch des Kraftwerkes wurde mir angeboten, zur westlichen Begrenzung des Sees zu fahren. Diese bildet ein befahrbarer Damm, von welchem man einen Blick auf den riesigen See und das entfernt liegende Kraftwerk hat. Am Kraftwerk selbst, welches mit Kohle betrieben wird, türmten sich riesige Kohleberge, die über die Eisenbahn aus der Umgebung angeliefert werden.
Nunmehr fingen meine Begleiter an zu drängen: man müsse in die Stadt zurück zum Essen. Zum Essen? Was kam denn jetzt? Also brausten wir im Korso zurück in die Stadt. Vorbei ging es wieder an den von Kriegsgefangenen erbauten Häusern sowie einigen Plattenbauten. Schließlich erreichten wir einen sehr großen, offenbar aus den siebziger Jahren stammenden Gebäudekomplex, in dem sich wohl auch einige Geschäfte befanden. Wir betraten einen festlich dekorierten Saal und ich traute meinen Augen nicht: hier war eine Festtafel aufgebaut worden, an der schon drei alte Leute Platz genommen hatten. Das war also die Überraschung! Ich sollte Zeitzeugen treffen. Ich war schier fassungslos und verlor dann auch vollständig die Fassung, als mich eine der alten Damen weinend in den Arm nahm. Das war nun wirklich das letzte, mit dem ich gerechnet hatte!
Nachdem unsere ganze Gruppe an der Tafel Platz genommen hatte, verteilte der stellvertretende Bürgermeister Brot und Wodka. Symbolisch wurde für meinen verstorbenen Großvater auf die Mitte der Tafel ein Glas Wodka gestellt und mit Brot abgedeckt. Der stellvertretende Bürgermeister hielt eine Ansprache, in der er der Toten aller Kriege gedachte und dann erklärte, dies sei ein nachträglicher Leichenschmaus für meinen Großvater. Das sei Sitte in der Ukraine. Das war ja alles nicht zu glauben! Ich brauchte geraume Zeit, bis ich in der Lage war mit Jegors Hilfe ein Gespräch mit den alten Herrschaften zu versuchen. Es stellte sich heraus, daß es sich um Mutter und Sohn sowie eine andere Dame handelte. Die Mutter hatte als Krankenschwester in dem Hospital gearbeitet, ihr mittlerweile siebzigjähriger Sohn hatte sie als Kind dorthin oft begleitet. Der Gedanke, daß die Frau womöglich meinen Großvater betreut hatte, war einfach nicht zu fassen.
Der Sohn erzählte, in dem Hospital wären sicherlich 300 Personen gewesen, in Ermangelung von Betten hätten die Kranken auf dem Boden auf Stroh gelegen. Die Ernährungslage wäre nicht nur im Lager sondern auch in Kurachowo katastrophal gewesen. So hätte man den Gefangenen, die dazu in der Lage gewesen wären, erlaubt, im See Fische zu fangen. Überhaupt hätte es kaum Bewachung gegeben. Das Hospital habe sich exakt an der Stelle befunden, wo wir nun säßen. Ca. 10 Baracken hätten den Platz umschlossen. Der Mann hatte als Junge auch mehrere Leichentransporte begleitet. Die andere Frau wußte zu erzählen, daß die Gefangenen kleine Gegenstände angefertigt hätten, die sie mit ihrer Hilfe dann gegen Nahrungsmittel eingetauscht hätten. Sie erzählte dann auch noch - allerdings in ukrainisch, was Jegor in der Übersetzung dann besondere Schwierigkeiten bereitete - wie sie während der deutschen Besetzungszeit den Befehl erhalten habe, als Ostarbeiterin nach Deutschland zu gehen. Durch Verstecken konnte sie sich dieser Aufforderung entziehen. Dann erinnerte sie sich noch daran, wie die Deutschen auf dem Rückzug September 1943 durch die Gegend gezogen seien. Auf einem Feld habe sie einen angeschossenen deutschen Soldaten gefunden und versucht, ihn zu verbinden. In dem Moment sei ein russischer Offizier gekommen und habe ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Merkwürdigerweise konnte sich keiner der drei an andere Lager in Kurachowo erinnern. Auch beharrte der Mann auf seiner Aussage, das Hospital habe noch nach 1945 bestanden.
Da die ganze Last der Übersetzung auf Jegor ruhte, die alten Herrschaften nicht mehr gut hörten und, wie gesagt, teilweise auch ukrainisch sprachen, war eine weitergehende Klärung der Thematik nicht möglich. Zum Schluß stellte sich noch heraus, daß die Enkelin der ältesten Frau Deutsch studiert hatte und nunmehr samt Urenkelin in Hamburg wohnte. Wer hätte das gedacht! Nach dem umfangreichen Essen wollte der Mann unbedingt weg. Er wolle mir etwas schenken was er Zuhause habe.
Mittlerweile war es schon sehr spät geworden und wir verabschiedeten uns von der gesamten Gesellschaft, insbesondere auch von Olga und ihrer Mutter, die offenbar diesen ganzen Empfang organisiert hatten. Wir mußten Olga aber noch zu ihrem Haus im Auto folgen, denn der Mann hätte sein Geschenk bei ihnen hinterlegt. In der Tat hatte er mir aus seinem Bücherschrank einen alten Bildband über das Donbass-Gebiet herausgesucht und geschenkt. Das war einfach nicht zu glauben! Gedankenverloren machten wir uns auf den etwa einstündigen Heimweg nach Donezk.
Am nächsten Tag hatte sich das Wetter geändert. Die Temperatur war um über 10 Grad gefallen und es war sehr ungemütlich geworden. Wieder holten Jegor und Natascha mich ab. Auf dem Programm stand der Besuch des etwa 150 nördlich von Donezk gelegenen, sehr bekannten Klosters Swjatogorsk. Über die für ukrainische Verhältnisse recht gut ausgebaute vierspurige Schnellstraße ging es nach Norden. Schnell waren wir aus Donezk heraus und durchquerten eine agrarisch geprägte Landschaft mit riesigen, aus Schwarzerdeböden bestehenden Feldern, die zu dieser Jahreszeit alle umgefügt waren. Typisch waren die mit Pappeln bestandenen Straßen. Nach geraumer Fahrzeit machten wir auf einer Anhöhe einen Zwischenstop. Von hier aus hatte man einen wunderschönen Ausblick auf das Naturschutzgebiet Kleban Bik. Bald darauf erreichten wir die Industriestadt Konstantinowka. Um das am Samstagmittag total überlaufene Stadtzentrum zu umgehen, wählten wir eine Abkürzung, die uns mitten durch ein brachliegendes Industriegebiet führte. Überall fanden sich komplett ausgeschlachtete Industrieruinen. Jegor berichtete, wie nach dem Zerfall der Sowjetunion fast die gesamte Industrie der Ukraine Konkurs gegangen sei. Die Sowjetunion als Absatzmarkt war nicht mehr existent und die maroden Fabriken nicht konkurrenzfähig. Zurück blieben im gesamten Osten der Ukraine Areale, die den Terminus "Industriebrache" für mich völlig neu definierten. In dem regnerischen Wetter sah alles nur noch schlimmer aus. In völlig desolatem Zustand waren auch die Plattenbauwohnblocks der Arbeiter. Grau in grau mit den typischen verkleideten Balkonen, die als Lagerraum dienen. Nur ab und zu zwischen den Wohnblock die kleinen typisch ukrainischen eingeschossigen Häuschen, nach Möglichkeit bunt bemalt.
Weiter ging es nach Norden, in Stadtnähe hatten Frauen an der Straße Blumenstände aufgebaut. Auch sah man immer mal wieder einen älteren Mann ein oder zwei Kühe auf offenem Gelände hüten. Schließlich erreichten wir Kramatorsk, wo wir einen Zwischenstop machten. In einem typischen ukrainischen Tante-Emma-Laden kaufen wir ein, wobei ich als Ausländerin doch schon ziemlich auffiel. Einen weiteren Stop legten wir an einer der supermodernen und so gar nicht in das Ambiente passenden Tankstellen ein. Hier machte wohl auch gerade eine Hochzeitsgesellschaft Rast. Die Männer waren in ihren besten Anzügen mit bunten Westen oder Schärpen angetan, die Felgen der Autos mit bunten Bändern geschmückt. Sie fanden es lustig, daß ich sie filmte. Neben uns stand ein uraltes Auto, in dessen Kofferraum eine Propangasflasche als Gastank diente. Ich traute meinen Augen nicht und fand das lebensgefährlich. Jegor beharrte aber darauf, daß auch in der Ukraine Autos alle 2 Jahre zu einer technischen Untersuchung müßten.
Nach der Durchquerung der Stadt Slawjansk änderte sich das gesamte Landschaftsbild. Hier gab es keinen Bergbau und keine Schwerindustrie mehr, sondern die Landschaft war hügelig und mit Wäldern bestanden. Besonders schön war die Strecke, die wir rechts abseits der Hauptstraße fuhren. Es handelte sich um ein riesiges Waldgebiet mit bunt verfärbtem Herbstlaub. Häufig sahen wir parkende Autos am Straßenrand, die Pilzsammlern gehören. Natascha erklärte, daß oftmals ganze Firmenbelegschaften frei bekämen, um Pilze zu sammeln - eine wichtige Zusatzernährung für den langen Winter.
Nach dem Verlassen des Waldes konnten wir, zwischen Feldern stehend, in einiger Entfernung ein im Bau befindliches Kloster sehen. Dorthin fuhren wir und sahen schon von weitem einen sehr großen Parkplatz und zahlreiche Souvenirstände. Trotz des kalten und ungemütlichen Wetters gab es eine ganze Reihe Besucher. Wir ließen die Souvenirstände hinter uns und erreichten einen sowjetischen Ehrenfriedhof. Direkt dahinter, am unübersehbaren Stelle über dem Tal des Norddonez Flusses war 1927 die gigantische Statur des Revolutionshelden Artjom errichtet worden. Die Plattform bot einen traumhaften Blick über die gesamte Gegend und die unten liegende Stadt Swjatogorsk. Unterhalb der Statur erkannte ich das Ziel unseres Ausfluges, das Kloster Swjatogorsk, eine der Hauptattraktionen der Gegend. Nach einem längeren Fußmarsch erreichten wir den oberen Eingang des Klosters. Dort wachten freiwillige Helfer in Kosakenuniform darüber, daß angemessene Kleidung getragen wurde. Das heißt, daß Frauen eine Kopfbedeckung tragen sowie die Oberschenkel verhüllt sein müssen. Natascha löste das Problem mit dem Umbinden eines seidenen Tuches, ich trug einen Mantel. Über eine Treppe erreichten wir den obersten Teil des Klosters, von wo aus wir den tiefer gelegenen Teil des Klosters als auch das oberhalb gelegene Artjomdenkmal sehen konnten. Auf einmal wurde ich von einem Mann in Mönchskleidung auf Englisch angesprochen. Woher ich käme? Da ich so weit gereist sei, bekämen wir nun eine Sonderführung durch das Kloster, welches eigentlich im Winter für Besucher geschlossen sei. Auf meine Frage, woher er so gut Englisch könne antwortete er lachend, er sei schon 49 Jahre alt und Mönchsnovize. Bislang sei er Kapellmeister und Englischlehrer gewesen, habe sich dann aber berufen gefühlt.
Nun bekamen wir im rasenden Sprachtempo einen Abriß der Geschichte des Klosters samt aller gewesenen Wunder erzählt. Genauer gesagt, ich bekam das erzählt, während Jegor und Natascha sich mit dazwischen geworfenen russischen Sätzen zufrieden geben mußten. Kurz gesagt wurde das Kloster im 13. Jahrhundert gegründet. Eine Expansion erfolgte Schritt für Schritt in den aus weichem Kalkstein bestehenden Berg. 1922 schlossen die Sowjets das Kloster, wandelten es in ein Erholungsheim um, während der Besatzungszeit hätten sich deutsche Truppen etabliert, darüber gebe es sogar noch einige Photos. Eine Wiedereröffnung sei erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1992 erfolgt. Nunmehr habe das Kloster sogar den Status einer Lawra (= Ehrentitel für wichtige Klöster der russisch-orthodoxen Kirche) erreicht. Offenbar fließen die Spenden reichlich, denn sämtliche Klosteranlagen inklusive der vergoldeten Dächer waren in einem hervorragenden Zustand. Mit Ausführungen zu seiner persönlichen Biographie und den besten Wünschen verabschiedete uns dieser Mönchsanwärter. Wir marschierten zurück zum Auto und fuhren den Berg hinab zum Haupteingang des Klosters am Flußufer. Hier stellte Jegor fest, daß eine Führung durch das Kirchenhauptgebäude nicht mehr möglich war. So schauten wir uns die Gebäude von außen an uns besuchten das hervorragende angeschlossene Museum. Dies stellte die Geschichte der gesamten Region ausführlich dar.
Nun war das schon spät und dunkel geworden und wir entschlossen uns, essen zu gehen. Wir landeten in einem etwas merkwürdigen Restaurant, in dem wir die einzigen Gäste waren. Die bunten Lichterketten erinnerten mich irgendwie an Weihnachten in Florida. Nach einem ausgiebigen Abendessen mit einer Flasche Madeira von der Krim fuhren wir wieder los. Nachtfahrten in der Ukraine haben es in sich und sollten Einheimischen vorbehalten sein. Die Straßen, die den besonderen Belastungen des kontinentalen Klimas ausgesetzt sind, sind sehr uneben und können böse Überraschungen bergen. Da dieses auch den Einheimischen bewußt ist, montieren sie sich oft ganze Batterien von Lampen an den Kühlergrill. Es ist schön, daß man mit diesem Lampenarsenal Löcher in der Fahrbahn gut erkennen kann. Leider bedeutet dieses für den Gegenverkehr aber einen Blindflug! Natascha kannte offenbar die Strecke gut und knatterte mit 100 Sachen über die Rumpelpiste. Immerhin hatten einige Fußgänger als puren Selbstschutz schon eine Taschenlampe dabei.