Mittlerweile war es schon Sonntag und ich war heilfroh, mich erst gegen 10 Uhr für meine Sondertour verabredet zu haben. Der Rest der Gruppe mußte wieder früh aufstehen, denn es stand eine Tour zum Soldatenfriedhof im weit entfernten Charkow mit Übernachtung auf dem Programm. Ich hatte mich für zwei Tage aus der Gruppenreise ausgeklinkt, um in Ruhe nach dem Todesort meines Großvaters zu suchen.
Verabredungsgemäß trafen Anatolij Dermeiner, sein Mitarbeiter Viktor Andenok und die Übersetzerin Julia, frisch graduiert von der Uni, im Hotel ein. Die Vorbesprechung förderte Erfreuliches zutage. Schon vor gut einem Jahr hatte eine deutsche Familie ebenfalls zum Lager 6031 Roja eine Suchanfrage bei Herrn Dermeiner gestellt. Dieser hatte alle erforderlichen Archive kontaktiert und sogar zwei Zeitzeugen gefunden, die noch Aussagen zum Lager machen konnten. Im meinem Falle war die Angabe vom Suchdienst des Roten Kreuzes etwas mißverständlich. Zum Lagerort meines Großvater hieß es: "Lager 6031 Roja, begraben 700 m vom Sowchos Schachtar". Letzterer war lokalisierbar, lag aber gut 30 Km weiter entfernt. Anatolij und Viktor waren davon überzeugt, daß es auch beim Lager Roja einen Sochos Schachtar gegeben haben müsse, eine in der Ukraine sehr gebräuchliche Bezeichnung. Durch die Archivsuche und Zeitzeugenaussagen konnten sie jedenfalls das Massengrab des Lagers exakt lokalisieren.
Los ging es also zu fünft in einem Lada aus der Stadt heraus. An dem Tag war es merklich kühler und zwischendurch gab es immer kurze Regenschauer. Durch die Wolkendecke hatte sich die Luft merklich verschlechtert: schon beim Verlassen des Hotels roch man förmlich die Industrie. An den klaren Tagen vorher war der Industiemief immer in die Atmosphäre abgezogen. Das konnte einfach nicht gesund sein! Jedenfalls war ich froh, daß an dem Sonntag nicht so viel Verkehr war und wir zügig voran kamen. Es ging geradewegs nach Westen Richtung Kurachowo, worin sich das Lager Roja befand.
Nach gut einer Stunde hatten wir die 45 Km überwunden und fuhren zum Stadtrand von Kurachowo. Anhand eines alten Stadtplans und der Zeugenaussagen konnten wir den ehemaligen Lagerfriedhof lokalisieren. Er war in den 1970er Jahren durch eine Art von Schrebergärten überbaut worden. Jedenfalls befanden sich Obstbäume und Gemüsebeete auf dem umzäunten Gelände. An einer Stelle hatten wir Glück. Eine Frau hatte das Tor aufgeschlossen und erntete gerade Obst. Meine drei Begleiter berichteten von meinem Anliegen und zu meinem Erstaunen zeigte sich die Frau außerordentlich nett und hilfsbereit. Gerne dürften wir uns umsehen und ich filmen. Ihr Mann sei auf Dienstreise und sie müsse sich um den Garten kümmern. Ich solle meinen Eltern die allerbesten Grüße bestellen und zum Abschluß schenkte sie mir noch einen Beutel frisch geerntete Aprikosen. Was für ein Empfang! Mit einer solchen Herzlichkeit hätte ich im Leben nicht gerechnet. Überhaupt war der Moment schon ergreifend: nie hätte ich erwartet, so schnell vor Ort fündig zu werden und nun trafen wir auch noch auf diese nette Frau. Kurz darauf kamen wir noch mit zwei Anwohnern der angrenzenden Häuschen ins Gespräch, offenbar Vater und Sohn. Auch der Vater konnte sich noch an das Lager erinnern, das allerdings wohl nicht sehr lange bestanden hatte. Mein Großvater war ja immerhin schon im April 1945 gestorben.
Entlang von Plattenbauten in desolatem Zustand ging es dann in Richtung des Stadtzentrums. Etwas weiter nach Westen an der Eisenbahnlinie hatte das eigentliche Lager 6031 bestanden. Heute war dort eine abgewrackte Fabrik und sonst nichts mehr zu erkennen. Der Verschiebebahnhof war allerdings immer noch da. In ca. 1 Km Entfernung konnte man auch das riesige Wärmekraftwerk erkennen, das heute noch lief und bei dessen Wiederaufbau viele der Kriegsgefangenen eingesetzt worden waren, wie Anatolij berichtete. Wir schauten uns um und fuhren dann entlang der Hauptstraße zur Bahnstation Roja, mitten in Kurachowo. Der Name der Station ist das einzige, was noch an Roja erinnert....
Da auf der gegenüberliegenden Straßenseite gerade ein Markt in vollem Gange war, machte Anatolij den Vorschlag, dort etwas zu Essen einzukaufen. Nachdem wir uns erst einmal ausgiebig umgesehen hatten, wurden Piroschki gekauft - mit Fleisch oder Gemüse gefüllte Teigtaschen, offenbar eine ukrainische Spezialität. Viktor hatte in der Zwischenzeit Wasser besorgt, mit dem wir die Aprikosen der Frau wuschen. Wer hätte das gedacht, daß 60 Jahre nach dem Tode meines Großvaters ich hier in dem Ort stehen würde! Gedankenversunken ging es zurück nach Donezk...
Nachmittags, bei immer noch nicht schönem Wetter, holten mich Anatolij und Julia vom Hotel ab. Wir wollten ein Bier trinken gehen und uns unterhalten. Ziel war der Puschkin Boulevard, der parallel zur Artema Straße verläuft. Der Boulevard könnte sich durchaus auch in Paris oder Rom befinden. Er ist eine breite Fußgängerzone, neu gepflastert und bepflanzt sowie mit zahlreichen Sitzbänken und Spielplätzen. Ebenfalls gibt es sehr hübsche Straßencafés mit Biergärten. Leider gab es im ersten Café ausgerechnet nur Warsteiner als Bier, so daß wir die Lokalität wechselten. Dort konnte ich das hervorragende Belo Weißbier aus heimischer Produktion kosten. Dann mußte die arme Julia dolmetschen, was das Zeug hielt. Anatolij, der auch etwas Englisch sprach, ist ehemaliger Oberst der Roten Armee, promovierter Physiker (Schwerpunkt Ballistik!) und hatte wirklich die Welt gesehen. Nicht nur die "östliche" von Vietnam über Angola bis Kuba, sondern auch die "westliche", u.a. da zahlreiche seiner Familienangehörigen in die USA und Kanada ausgewandert sind. Es entspann sich ein hochinteressanter Dialog über den Kalten Krieg in Afrika, die Rolle der Moslems in der EU und in den GUS Staaten sowie über den EU-Beitritt der Türkei. Dann kamen wir auf die Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschen, Ukrainern und Amerikanern zu sprechen und den Schock, den der 11. September ausgelöst hat. Ausschlaggebend für sein Engagement zur Suche deutscher Gräber ist die Tatsache, daß sein Vater im Kriege bei Königsberg gefallen ist und niemand weiß, wo er liegt. Die Zeit verging wie im Fluge und wir mußten dieses hochinteressante Gespräch leider beenden.
Am nächsten Tag war dann wieder strahlender Sonnenschein und Temperaturen um die 30 Grad. Da ich ja nun nicht mehr fahren mußte, nahm mich Viktor, ehemaliger Major der Sowjetarmee und Kosackenabkömmling, unter seine Fittiche, um mir Donezk zu zeigen. Julia war als Dolmetscherin wieder mit von der Partie. Vorbei ging es am Leninplatz und von dort nach Osten über den Komsololskij Prospekt hinunter zum Kalmius Reservoir, was heute als Naherholungsgebiet genutzt wird. Auf einer Parkbank entstand eine lebhafte Diskussion mit Viktor, der sich wunderte, daß die Deutschen ihre Kriegstoten mit so hohem Aufwand suchen. Er berichtete mir von dem Massengrab in Donezk für Angehörige der Roten Armee, wo wohl 20.000 Tote unindentifiziert liegen. Im Kriege seinen die Leichen auch einfach in Schachtanlagen geworfen worden. Zu Stalins Zeiten habe man einen ganz anderen Umgang mit den Toten gepflegt, diese seien einfach nichts wert gewesen.
Entlang der etwas verkommenen Uferpromenade des Kalmius ging es weiter. Vor der Gründung der Ukraine sei hier ein Strandbad gewesen, heute, nach der Privatisierung, sei alles verkommen. Baden könnten in dem aufgestauten See nur Einheimische, mir als Deutscher sei das nicht angeraten, sagte Viktor lachend. Irgendwann bogen wir links ab und folgten einer Straße in Richtung zum Zentralmarkt. Dieser ist einer von 7 Märkten der Stadt, aber wohl der größte. Milchprodukte und Fisch werden in einer riesigen überdachten Markhalle angeboten; Gemüse, Obst, Bekleidung etc. daneben unter offenem Himmel. Hier bekam ich einen Eindruck vom fruchtbaren Boden der Ukraine: frische Tomaten, Kartoffeln, Paprika, Zwiebeln, Aprikosen, Pfirsiche stapelten sich bei den Händlern zu für unsere Verhältnisse Spottpreisen. Offenbar fand der Markt täglich statt und zog viele Kunden an. Jenseits der Tschejuskinzev Straße gab es noch einen Bereich für Blumen und einen Stand für Korbwaren. Da ich bislang vergeblich auf der Suche nach einem Souvenir gewesen war, in Donezk gibt es einfach keine Touristen, wurde ich hier fündig. Für nur 4 Griwna erwarb ich ein hübsches Korbgeflecht zum an die Wand hängen. Leider konnte ich keinen der schönen Körbe mitnehmen, da ich sie einfach nicht transportieren konnte. Die Verkäuferin traute übrigens ihren Augen nicht, als ich als Ausländerin mit zwei Einheimischen im Schlepptau dort auftauchte.
Auf unserem Besichtigungsprogramm stand dann auch noch ein Kaufhaus, was bei Viktor Verwunderung auslöste. Ob wir in Deutschland keine hätten? Jedenfalls landeten wir dann in einem recht großen und ich war verwundert, weil es doch ganz anders war, als in Deutschland. Ein Großteil der Waren war in Vitrinen untergebracht und es gab unzählige Verkäuferinnen. Im Obergeschoß wurden in erster Linie importierte Elektroartikel zu fast deutschen Preisen angeboten.
Dann durchquerten wir die Parkanlage hinter der St. Preobraschenskij Kathedrale. Nach Viktors Aussage befand sich unter der Erde ein riesiges Massengrab deutscher Soldaten, welches man beim Bau der Kirche vor einigen Jahren gefunden hatte. Die Stadtverwaltung von Donezk weigere sich, Ausbettungen durchführen zu lassen, weil Teile der Parkanlage mittlerweile wunderschön hergerichtet wurden. Zudem hat wohl die orthodoxe Kirche auch kein Interesse an Grabungen.
Nach dem Durchqueren einer weiteren Parkanlage erreichten wir schließlich Anatolijs Büro, wo wir verabredet waren. Es liegt in einem älteren Wohnblock im Souterrain und hatte gerade einen Wasserschaden aus der Etage darüber zu beklagen. An den Wänden hängen große Karten und Stadtpläne von Donezk und Umgebung, in die handschriftlich Informationen über Gräber und Frontverläufe eingezeichnet sind.
Nach einem netten Gespräch ging es weiter mit Viktor und Julia vorbei an der zaristischen Kanone und durch den Skulpturenpark mit den schönen Rosenbeeten, was ich schon kannte, dann über die Universitätsstraße entlang der Universität. Postkarten gab es übrigens nur bei einem privaten Händler in der Post zu kaufen, sonst nirgends in der Stadt. Irgendwann verabschiedete Julia sich und Viktor begleitete mich zum Hotel. Wir versuchten eine deutsch-russische Konversation, was sogar recht gut klappte, weil Viktor doch eine Menge deutscher Worte kannte und ich auch etwas russisch für die Reise gelernt hatte.
Abends traf ich wieder Anatolij im Hotel, der mit mir die Reisegruppe empfing, die total erschöpft von der Charkowtour wiederkam. Sie waren am ersten Tag wieder 16 Stunden unterwegs gewesen, hatten am anderen Tag nur den Friedhof in Charkow besichtigt sowie eine Sektkellerei für Krimsekt. Ich war heilfroh, mich für die beiden Tage ausgeklinkt zu haben!