Eine Reise nach Lviv (Lemberg) in der Ukraine

Ukraine

Nach der Lektüre des Buches von David Mendelsohn "Die Verlorenen: eine Suche nach sechs von sechs Millionen" sowie dem Bericht eines Familienforscher-Kollegen von seiner Reise in die Westukraine, war bei mir schon vor geraumer Zeit die Idee gereift, ins alte Lemberg zu reisen. Als ich dann noch feststellte, daß es eine regelmäßige, direkte Flugverbindung mit Wizzair gab, stand mein Entschluß fest: meine diesjährige Reise im September 2018 sollte nach Lviv, in den Westen der Ukraine führen.

Ausgerüstet mit dem gerade in neuester Auflage erschienenen Lembergreiseführer aus dem Trescher-Verlag ging es wie immer an die Reiseplanung. Schnell war klar, daß sich hinter der glänzenden Fassade von Lemberg ein sehr dunkles Kapitel der Geschichte verbirgt. Die Erwähnung meines Reiseziels bei der Generation im Alter 80+ führte zum Hochziehen der Augenbrauen und der Nachfrage, ob ich denn wisse, daß…. ? Also bezog ich explizit diesen Teil der Geschichte in meine Reisevorbereitungen ein und stellte fest, daß in Lemberg auch ein Ghetto und Zwangsarbeiterlager existiert hatte.

Die Geschichte holte mich dann unmittelbar vor Reiseantritt ein: die USA schoben den Ex-Trawniki und ursprünglich aus Ostgalizien stammenden, 95jährigen Jakiw Palij kurzerhand in meine Heimatregion ab. Als Trawniki bezeichnet man Nicht-Deutsche Einheiten (zumeist Ukrainer), die im 3. Reich der SS unterstanden und insbesondere im sogenannten Generalgouvernement (dem besetzten Polen und der Ukraine) Hilfsdienste im Rahmen der "Endlösung" der Juden leisteten. Auch in Lemberg waren Trawniki eingesetzt.

Lembergs Geschichte ist lang und ausgesprochen kompliziert. Auswirkungen bis in die heutige Zeit hat vor allem die Historie seit 1772. Lemberg lag im zu Polen gehörenden Galizien und wurde mit der ersten polnischen Teilung 1772 der Habsburger Monarchie zugeschlagen. Mit dem Zusammenschluß des östlichen mit dem westlichen Teil Galiziens schuf Österreich im 18. Jahrhundert einen neuen Verwaltungsorganismus, der zwei durch Sprache und Religion unterschiedliche und sich nicht immer freundlich gegenüberstehende Völker angliederte. Im Westen waren es die römisch-katholischen Polen, im Osten die Ruthenen (ab Ende des 19. Jahrhundert Ukrainer genannt), die seit 1596 mit Rom uniert waren. Von 1772 bis 1918 war "Galizien" die offizielle Bezeichnung für ein Gebiet von 83.000 km².
Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 proklamierten die Westukrainer die unabhängige "Westukrainische Volksrepublik". Allerdings errang Polen nach teilweise heftigen Kämpfen im Polnisch-Ukrainischen Krieg die Herrschaft über die Lemberger Region und 1921 mußte die Westukrainische Volksrepublik kapitulieren. In der Zentral- und Ostukraine hingegen setzte sich die sowjetische Herrschaft durch. 1922 wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik offiziell Teil der neu gegründeten Sowjetunion.
Nach dem Beginn des 2. Weltkriegs besetzten als Folge des Hitler-Stalin-Paktes sowjetische Truppen Ostgalizien und vereinigten es mit der Ukrainische Sowjetrepublik am 17.9.1939. Anschließend begann eine Zeit des Terrors mit Massendeportationen und -verhaftungen. Als mit dem Unternehmen Barbarossa deutsche Truppen ab dem 22. Juni 1941 auch die Ukraine besetzten, erhofften sich viele Ukrainer die nationale Befreiung und Unabhängigkeit und begrüßten die Truppen der Wehrmacht freudig. Sofort mit der deutschen Besetzung begannen aber die Verfolgungen und Tötungen der jüdischen Bevölkerung, die von großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung unterstützt oder mindestens toleriert wurden. Mendelsohns Schilderungen der Verfolgung seiner Vorfahren sprechen hier Bände.
Die Zeit der deutschen Besetzung dauerte bis zum Sommer 1944, als die Rote Armee Lemberg einnahm und in die neue Ukrainische Sowjetrepublik eingliederte. Da Stalin der Westukraine mißtraute, kam es zu ethnischen Säuberungen und Zwangsumsiedlungen. Bei diesem fast kompletten Bevölkerungstausch wurden ethnische Polen von Lemberg in die ehem. deutschen Ostgebiete vertrieben (bes. nach Breslau) und durch ebenfalls vertriebene Ukrainer aus Polen ersetzt. In der Lemberger Region traten an die Stelle der traditionellen polnischen, jüdischen und armenischen Bevölkerung nun Ukrainer. Die heterogene Bevölkerungsstruktur wandelte sich zu einer mehr oder weniger homogenen.

Lemberg

Am ersten Sonntag im September landete ich mit einiger Verspätung in der Ukraine. Bei der Landung fiel mir sofort der supermoderne Flughafen von Lviv auf, wie das habsburgische Lemberg und russische Lwow nun auf Ukrainisch heißt. Schnell war das Gepäck in Empfang genommen und die Grenzkontrolle funktionierte flott und problemlos. Ich bekam einen Stempel in den Paß (glücklicherweise ist die Einreise in die Ukraine visumsfrei) und los ging es. Am Ausgang erwartete mich bereits der vorbestellte Vermieter meiner Wohnung mit einem Taxi und wir fuhren in Richtung des Stadtzentrums. Auf der etwa 20 Minuten dauernden Fahrt durchquerten wir einen breiten Gürtel von Plattenbaugebieten à la Sowjetunion mit zugebauten Balkonen und in heruntergekommenem Zustand. Schließlich erreichten wir den Bereich des alten Stadtzentrums, sofort erkennbar an der historischen Bausubstanz. Mein Vermieter lotse mich zu einer Wechselstube in der Altstadt mit "gutem Umtauschkurs" (ich hatte im Flughafen wechseln wollen), denn ukrainische Griwna kann man in Deutschland nirgendwo, noch nicht mal bei der sonst so gut sortierten Reisebank, erwerben. Danach ging es zur gebuchten Wohnung, zentral gelegen am Rande der inneren Altstadt in einem historischen Gebäude aus der k. u. k. Zeit. Wie gewohnt hatte ich bei Booking.com gebucht und wurde auch hier nicht enttäuscht. Wie allerdings schon in St. Petersburg muß man sich im ehemaligen Ostblock darauf gefaßt machen, daß die angebotenen Wohnungen zwar gut renoviert sind, aber in einer, sagen wir mal für Westeuropäer gewöhnungsbedürftigen Umgebung liegen. Auch in Lemberg ging es durch das typische, massive Eisentor mit elektronischer Nummernsicherung auf den Innenhof. Der war dann "Ukraine live" und so stelle ich mir die Berliner Hinterhöfe um 1900 vor. Es ist nun mal ein Unterschied, die schönen alten Häuser als Tourist zu bestaunen oder darin zu wohnen: Wäscheleinen von Haus zu Haus, Teppiche auf den Brüstungen zum Ausdünsten der Feuchtigkeit, eine schlafende Katze im Pappkarton. Einzig die überall angebrachten kleinen Überwachungskameras zeugten von der Neuzeit….

Mein erster Ausflug in der Stadt führte mich zum Markplatz. Entlang der Kniazia Romana Straße bekam ich bereits einen ersten Eindruck von der gewaltigen Architektur der Stadt. War Lemberg 1772 Provinzialhauptstadt innerhalb der Habsburger Monarchie, so wurde die Stadt 1775 Hauptstadt des Königreiches Galiziens und Lodomeriens und nahm einen enormen Aufschwung, der sich auch in der Architektur niederschlug. Prägend für das heutige Stadtbild sind vor allem auch die zahlreichen Gebäude aus den Jahren 1890 bis 1914, als sich Lemberg nach den Vorbildern von Wien, Berlin oder Paris zu einer modernen Stadt entwickelte. Den Besucher der Stadt darf es folglich auch nicht wundern, wenn er in den Bürgersteigen noch die charakteristischen kleinen, runden Eisendeckel mit der Inschrift "W Lbg" (für Wasser Lemberg) oder die ovalen Deckel mit dem Wort "Hydrant" findet. Allerdings besteht bei mir die Vermutung, daß nicht nur die Eisendeckel, sondern auch die darunter liegenden Wasserleitungen noch aus Kaisers Zeiten stammen, denn - wie auch in Rußland - sollte man keinesfalls das Wasser aus den Leitungen konsumieren. Dies führt zum massenhaften Verkauf von großen Plastikcontainern mit Wasser, die nach Hause geschleppt werden müssen. Auf die Idee, diese nachfüllbar zu machen, kommt wohl nur ein Deutscher… also landen sie im Müll, der in Containern an der Straße allerdings getrennt wird - oder werden sollte.

Der Marktplatz (pl. Rynok) ist ein architektonisches Kleinod. Von hier aus dehnte sich die Stadt in alle Richtungen aus. Wie in allen östlichen Siedlungen steht das Rathaus mitten auf dem Platz und ist in Lemberg umgeben von 44 Bürger- und Patrizierhäusern. Das gesamte Ensemble ist schön renoviert, steht unter Denkmalschutz und ist UNESCO-Weltkulturerbe. Hier ist nicht nur das Zentrum der Stadt, sondern auch das Zentrum des Tourismus mit Cafés und Andenkengeschäften.

Nach einem Rundgang um das Rathaus wandte ich mich nach Osten, besichtigte die Maria-Entschlafens-Kirche (autokephal orthodoxe Kirche) von 1598 und der angeschlossenen Dreiheiligen-Kapelle. Direkt daneben fand ich durch Zufall einen unter offenen Himmel stattfindenden Bücher- und Trödelmarkt. Bei dem Angebot dort wird jedem Besucher unmittelbar das wirtschaftliche Gefälle des Landes zu Westeuropa klar. Vom Büchermarkt aus überblickt man die Vynnychenka Str. mit einigen prachtvollen Bürgerhäusern und dem alten Pulverturm. Dieser ist eine der wenigen alten Stadtbefestigungen (von 1556), die ansonsten von den Österreichern geschliffen wurden. So findet man rechts und links vom Turm nun eine breit angelegte Promenade. Unweit vom Markt und der großen Kirche befindet sich auch das Königliche Arsenal von 1649, heute Sitz des Gebietsarchives.

Losgelöst vom Reiseführer ging ich nach Norden und erblickte dort ein imposantes Gebäude, welche an eine alte Feuerwehrstation erinnerte. Richtig, auf dem dankenswerterweise auch in Englisch angebrachten Schild stand, daß sich im Gebäude von 1901 auch heute noch die Feuerwehr befindet. Ich ließ mich entlang der alten ehemaligen Altstadtbefestigung treiben (bul. Honty) und erblickte einen Markt, Dobrobut, der sich als ausgesprochen groß herausstellte. Teilweise überdacht, teilweise offen, werden hier alle Waren für den täglichen Bedarf angeboten: von Lebensmitteln über Bekleidung bis hin zu Elektroartikeln. Es herrschte reges Treiben und hier konnte ich in aller Ruhe die Lemberger Einwohner beobachten, denn die kaufen eher hier ein als in den modernen Supermärkten. Und hier bekommt man auch einen Einblick in das Preisniveau der Stadt: ich bezahlte für ein Eis und eine Flasche Mineralwasser 21 Griwna, also ca. 60 Cent! Rund um den offiziellen Markt sitzen die privaten Verkäufer, die Produkte aus ihren Gärten verkaufen - um diese Jahreszeit natürlich vor allem Beeren und Äpfel. Auf diesem Markt kann man ausgezeichnet das wahre Leben in der Ukraine studieren. Erschreckend zu sehen ist allerdings, daß auch hier alte Rentnerinnen - sehr verschämt - auf Betteln angewiesen sind. Diese Generation ist definitiv der Verlierer der Unabhängigkeit und kann mit ihren Minirenten den Lebensunterhalt nicht bestreiten.

Nachdenklich ging ich weiter - um nach kurzer Zeit unvermittelt auf die Oper zu stoßen. Dieser Monumentalbau stammt aus dem Jahre 1842, ist im klassizistischen Wiener Stil erbaut und war seinerzeit das größte europäische Theater. Hier beginnt auch der Prospekt Svobody, der Stadtboulevard, auf dem einbetonierten Flußbett der Poltava. Wegen des noch wunderschön warmen Wetters herrschte sehr reges Treiben in der Grünanlage. Sehr wohltuend zu sehen war, daß sich hier noch zahlreiche ältere Menschen zum Schachspielen auf den Parkbänken trafen - gute Partien oft umringt von einer Traube von fachkundigen Zuschauern. Die jüngeren Leute hingegen sitzen, wie auch im Westen, nebeneinander auf der Bank und starren auf ihre Smartphones. Ich ging in Ruhe den Boulevard hinunter, vorbei am Traditionshotel George von 1901, und erreichte völlig erschöpft bald wieder meine Unterkunft:

Am nächsten Tag mit Temperaturen von 27 Grad wollte ich mich der Geschichte Lembergs unter der Naziherrschaft nähern. Zuhause hatte ich mich bereits ausführlich auf dieses dunkle Kapitel der Stadtgeschichte vorbereitet. Gelesen hatte ich vom Arbeitslager Janowska am Stadtrand und mit Befremden festgestellt, daß auf den Mauern des Lagers später ein sowjetisches Gefängnis errichtet wurde, aus welchem nun ein ukrainisches hervorgegangen ist. Google Streetview sei Dank entdeckte ich in der Nähe des Gefängnisses den Hinweis auf eine Gedenktafel an das Arbeitslager. Als ich mir Veranstaltungsinformationen in der Touristeninfo besorgt hatte, fiel mir darin die Erwähnung des Museums "Territorium des Terrors" auf, von dem ich noch nichts gehört hatte und welches im Reiseführer auch nicht erwähnt wurde. Eine Internetrecherche ergab, daß das Museum erst einige Monate alt ist und sich auf dem Gelände des ehemaligen Lemberger Ghettos befindet. Also machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Am Theater überquerte ich die vul. Torhova und spazierte den Prospekt V. Chornovola nach Norden. Irgendwann, nach langen Reihen mit habsburgischer Vorstadtarchitektur, sah ich zur linken Hand ein nagelneues, riesiges Shoppingcenter im amerikanischen Stil - das Lviv Forum. Das war eine Überraschung! Ich ging weiter, unterquerte die Eisenbahn, und sah direkt danach schon den Eingang mit breitem Vorplatz zum neuen Museum. Es steht exakt an der Stelle, an der am 6. November 1941 die Errichtung des Lemberger Ghettos angeordnet wurde.

Das Ghetto beherbergte unter unvorstellbaren Bedingungen in den Jahren des Bestehens ca. 140.000 Juden, denn Lemberg war nach der Besetzung Polens durch die Wehrmacht Zufluchtsort für zahlreiche polnische aber auch deutsche Juden geworden. Diese wurden nun vom Naziterror eingeholt. Bereits im März des folgenden Jahres erfolgten die ersten Transporte in das KZ Belzec. Alleine während der sog. "Großen Aktion" im August 1942 wurden 50.000 Juden aus Lemberg nach Belzec deportiert - um bei der Visite vom Reichsführer SS Himmler damit prahlen zu können. Auch in Lemberg wurden sog. Selektionen ausgeführt und Teile der Ghettobewohner in das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska gebracht, um - bis auf die arbeitsfähigsten - dort in den Piaski Hügeln zu Tausenden erschossen zu werden.
Ende Juni 1943 wurde in einer letzten großen "Aktion" das Ghetto endgültig liquidiert.

Das neue Museum besteht aus einem Komplex von Baracken, Wachtürmen, einer Eisenbahntrasse mit Viehwaggon und einer kleinen Ausstellung. Leider ist die Beschriftung fast nur auf Ukrainisch. Englische Texte sind bislang nur über einen QR-Code aufrufbar. Eindrucksvoll sind trotzdem die wenigen aus dem Janowska-Lager bekannten Photos, ein kleines Lagermodell und eine SS-Uniform.

Zufälligerweise kam ich im Ausstellungsraum mit einem älteren japanischen Besucher ins Gespräch, der mehr als weitgereist war. Nun machte er eine Tour durch die Ukraine und Polen auf den Spuren der jüdischen Bevölkerung. Es entspann sich ein lebhaftes Gespräch auf Englisch und er offenbarte mir, daß er deutsche Philosophie studiert hatte. Als ich von meiner Reise nach Kaliningrad im letzten Jahr berichtete korrigiert er mich: "Für mich ist das Königsberg. Das ist doch die Stadt Kants!" Als ich mich mit einem freundlichen "Arigato Gozaimas" verabschiedete, bekam ich umgehend ein "Vielen Dank und auf Wiedersehen" zurück. Ich liebe solche Treffen!
Auf dem Weg aus dem Museum sprach mich eine Angestellte auf Englisch an und wir unterhielten uns lebhaft über die Geschichte der Stadt in den 1940er Jahren. Letztlich verabredeten wir uns zu einer Exkursion für den nächsten Tag.