Im August 2022 brach ich zu einer Rundreise durch Polen nach Litauen und Lettland auf.
Irgendwann erreichte ich vom Dreiländereck Polen, Rußland, Litauen kommend die E67, "die" Hauptdurchgangsstrecke über EU-Territorium. Unverständlicherweise war diese enorm wichtige Strecke tatsächlich nur zweispurig ausgebaut und Lastwagen fuhr an Lastwagen. Erst sehr viel später erreichte man den Bereich des vierspurigen Ausbaus.
Mittags bei strahlendem Sonnenschein erreichte ich mein nächstes Ziel: Kaunas in Litauen. Ich überquerte die hier schon sehr breite Memel auf einer von deutschen Kriegsgefangenen errichteten Brücke im Stalinstil.
Kaunas wurde im 14. Jahrhundert gegründet und stand lange im Schatten der litauischen Hauptstadt Vilnius. Bekannt wurde Kaunas u.a. als Startpunkt des napoleonischen Marsches auf Moskau 1812, 1879 wurde die Stadt auf Befehl des Zaren zur Festung ausgebaut und 1920 provisorische Hauptstadt (nach der Besetzung Vilnius' durch Polen). Im 2. Weltkrieg wurden durch Litauer (direkt vor dem deutschen Einmarsch) und Deutsche die meisten jüdischen Einwohner ermordet.
Nach dem Einchecken in mein Apartment (eines der wenigen in Kaunas Altstadt mit Parkplatz) nutzte ich die verbliebene Zeit zu einer Stippvisite in der Innenstadt. Bei 30 Grad sah ich zu meinem Erstaunen, daß zwar der unmittelbare Rathausplatz wunderschön restauriert war, aber ein guter Teil der Fußgängerzone nicht, sowie zahlreiche Gebäude, die etwas abseits lagen. Irgendwie fühlte ich mich an meinen Besuch in Bratislava 1997 erinnert. Kaunas war doch 2022 europäische Kulturhauptstadt! Da waren offenbar Zeitpläne nicht eingehalten worden. Trotzdem war die erstaunlich kleine Innenstadt sehr hübsch anzusehen. Auffällig waren die sehr vielen jungen Leute aus offenbar halb Europa, die hier unterwegs waren.
Für den nächsten Tag war eine Fahrt entlang der Memel nach Westen vorgesehen. Wie an vielen Flüssen Europas waren auch hier vor allem im 19. Jahrhundert Herrenhäuser und Paläste errichtet worden, wegen des auf der nördlichen Flußseite erhöhten Ufers an der Memel ausschließlich dort. Alle paar Kilometer kann man anhalten und sich mehr oder weniger gut erhaltene bzw. restaurierte Gemäuer anschauen.
Von Kaunas aus war mein erster Besichtigungspunkt der Palast Belvedere (Belvederio dvaras), eine Villa im italienischen Stil von etwa 1850. Seinerzeit waren die Bäume offensichtlich niedriger, bei meinem Besuch versperrten sie den Blick auf den Fluß. Zur Zeit meines Besuches waren auch Restaurierungsarbeiten im vollen Gange. Nachdem ein Privatinvestor das Gebäude ab 2005 verfallen ließ, hat ein Landwirtschaftsunternehmen seit 2019 die Arbeit am Bau übernommen.
Als nächstes folgte das Herrenhaus von Veliuona (Veliuonos dvaras) von 1820, einer der schönsten klassizistischen Holzbauten Litauens mit Park. Ein Teil des Gebäudes wurde als Landesmuseum genutzt (wovon ich bei meinem Besuch nichts bemerkte). Unten an der Hauptstraße lag das sog. Magazin aus dem 18. Jahrhundert, welches früher Schenke und Getreidespeicher war und nun in desolatem Zustand war.
Dies kann man wahrlich nicht von der Burg Raudonė (Raudonn) sagen, die Renaissanceburg eines preußischen Holzhändlers aus dem 15. Jahrhundert. Die im 2. Weltkrieg beschädigte Burg hoch über der Memel wurde zu Sowjetzeiten restauriert und darin eine Schule eröffnet. 2022 konnte man das Gebäude besichtigen und den Turm besteigen.
Burg Panemune stammte ebenfalls aus der Renaissance, verfügte über einen hohen Turm, lag nicht weit entfernt von Raudonė und war bei meinem Besuch bestens restauriert. Im Gebäude wurden Konferenzen, Ausstellungen usw. abgehalten.
Sehenswert war auch das Landgut Jurbarkas (Georgenburg) mit umgebendem wunderschönem Park. Das Herrenhaus ist leider im 1. Weltkrieg niedergebrannt. Nach etwa 40 km überquert man die historische Grenze zum alten Ostpreußen, genauer: zum Memelland. Das Memelland gehörte bis 1920 zum Deutschen Reich, wurde dann laut Versailler Vertrag unter französische Verwaltung gestellt und 1923 von Litauen, weitestgehend gegen den Willen der Bewohner, annektiert. Die Erste Litauische Republik wurde gegründet. Im März 1939 mußte Litauen nach einem deutschen Ultimatum das Memelgebiet wieder an das Deutsche Reich abtreten.
Anmerkung: Mit dem Überschreiten der alten Grenze des Memellandes schloß sich auch sozusagen meine "Ostpreußentriologie", die mit dem Besuch des
mittleren (heute russischen) und südlichen (heute polnischen) Teils der alten preußischen Provinz begonnen hatte.
Schmalleningken (Smalininkai) war bis zur Selbständigkeit Litauens Grenzort zwischen dem Deutschen Reich und Rußland und zwischen 1939 und 1945 Grenzort zwischen erneut dem Deutschen Reich und Litauen. Nach 1945 wurde das Memelland sowie Gesamtlitauen eine sowjetische SSR.
Die lange deutsche Geschichte zeigte sich sofort in der "typisch kaiserzeitlichen" Architektur des Ortes, die sich tatsächlich von den umgebenden, östlichen Orten unterschied.
Als Grenzort verfügte die Stadt über eine große Zoll- und Grenzstation, deren Haus 2022 noch unübersehbar am Ostrand des Ortes stand. Erstaunlicherweise existierte auch noch das Bahnhofsgebäude von 1902 der Kleinbahn Pogegen-Schmalleningken mit ziemlich gut lesbarem deutschem Ortsschild. Das Gebäude an sich war zwar bewohnt, aber heruntergekommen.
Gut erhalten war hingegen der Hafen von Schmalleningken mit 400 m langem Kai und einer Wassermeßstation, an der man einen Eindruck der gewaltigen Memelhochwasser erhielt. Eindrucksvoll zeigte sich auch die fast geschlossene Eichenallee, bestanden mit uralten Bäumen.
Um mich der Natur und Geschichte des Memellandes anzunähern, hatte ich als Weg zu meinem nächsten Ziel Bittehnen (Bitėnai) nicht die Hauptstraße gewählt, sondern den Schotterweg durch den Rambyno Nationalpark.
Im klein-litauischen Willkischken (Vilkyškiai) war erfreulicherweise das Gutsgebäude von 1628 wunderschön restauriert worden. Ich folgte dem Weg durch dichten Wald bis Schreitlaugken (Šereitlaukis). Von dem ehemaligen Gutshof war noch die alte Schnapsbrennerei erhalten sowie Wirtschaftgebäude und ein Wasserturm, alles mit mehrsprachigen Erläuterungstafeln sowie alten Photos versehen. Die uralten Linden auf dem Gelände könnten sicher so manche Geschichte erzählen!
Weiter zog sich der Weg und erreichte bald die agrarisch genutzte Schwemmlandebene im Memelbogen. Die Landschaft am anderen Ufer gehört seit 1945 zum Oblast Kaliningrad und damit zu Rußland. Bald konnte man bereits mit bloßem Auge den Schornstein einer alten deutschen Papierfabrik im ehemaligen Ragnit, heute Neman, erkennen. Von einem Aussichtsturm auf der litauischen Seite war dann auch das in einem völlig desolatem Zustand befindliche Gebäude der alten Ordensburg unmittelbar am Memelufer erkennbar. "So nah und doch so fern", schoß es mir durch den Kopf. Zwar hatte Rußland seit Juli die coronabedingt geschlossenen Grenzen zum Oblast unter bestimmten Bedingungen wieder geöffnet, praktisch war eine Reise wegen der westlichen Sanktionen aber unmöglich und wohl auch nicht angeraten. Mit Blick auf das "russische Ostpreußen", welches ich glücklicherweise noch vor wenigen Jahren besuchte, fuhr ich die Straße weiter. Als ich von einem Grenzschutzauto überholt wurde, wurde mir mein momentaner Aufenthaltsort an der EU-Außengrenze noch mal vor Augen geführt. Erstaunlicherweise sah ich eine Hochspannungsleitung die Memel überqueren und las im nachhinein, daß die baltischen Staaten bis heute ihr Stromnetz mit Rußland und Belarus teilen. Bereits vor dem Ukrainekrieg und seitdem ganz verstärkt, laufen allerdings die Aktivitäten zum Umzug in das EU-Netz.
Bald war die Häuseransammlung Bittehnen (Bitėnai) erreicht. Deutschen ist das Fleckchen Erde womöglich als Heimatort von Lea Grigoleit ein Begriff, der Ulla Lachauer in Büchern und Filmen ein Denkmal setzte (Paradiesstraße). Litauer denken eher an den litauischen Patrioten Martynas Jankus (Martinus Jankus, 1858-1946), dem hier ein Museum gewidmet ist oder den Schriftsteller Wilhelm Storost (Pseudonym Vydūnas), der wie Lena Grigoleit auf dem evangelischen Waldfriedhof des Ortes begraben liegt. Der Friedhof wurde 2022 noch benutzt, war sehr gepflegt und die Namen auf den Grabsteinen zeigten zahlreiche litauisierte deutsche Namen. Der Friedhof lag unweit des Hügels Rombinus (Rambynas). Dieser war eine hoch über der Memel gelegene Kultstätte der einheimischen Bevölkerung vor der Eroberung durch den Deutschen Orden. Auch in der Jetztzeit war der Blick über den Fluß wunderschön!
Ich übernachtete im nur einen Kilometer entfernten Groß Lompönen (Lumpėnai) in einem alten deutschen Gebäude, vermutlich einem Forsthaus, und ließ den glutheißen Tag am zum Haus gehörenden Fischteich ausklingen.
Der nächste Tag empfing mich mit frischen 19 Grad, einem pechschwarzen Himmel und Donner. Sollte es nach der Hitze der letzten Tage nun doch ein Gewitter geben? Ausgerechnet an dem Tag, wo ich doch an die Grenze in Richtung Tilsit (Sovjetsk) wollte? Um noch etwas von den Flußterrassen der Memel zu sehen, wählte extra nicht die Hauptstraße, sondern die Schotterstraße über Schakeningken (Šakininkai). Dies stellte sich als Ansammlung von ärmlichen Bauernhöfen heraus, deren Bewohner offenbar, dem Zustand der Gebäude nach zu urteilen, gerade so über die Runden kamen. Bald darauf stieß ich auf eine völlig menschenleere Hauptstraße (A 12). Mittlerweile hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet und es schüttete wie aus Eimern. Gerade noch für mich erkennbar war eine recht neue Grenzabfertigungsanlage mit Gleisanschluß nach Rußland, die völlig verlassen war.
Im strömenden Regen erreichte ich Übermemel (Panemunė) und sah direkt am Flußufer die martialischen Grenzanlagen an der Memel. Der Grenzübergang war allerdings, wie schon der vorherige, völlig menschenleer. Um einen Blick auf das alte Tilsit zu erhaschen, fuhr ich über einen alten Flußsteinpflasterweg direkt neben der Grenzanlage zum Fluß. Kaum hatte ich durch den Regenvorhang das Tor der Königin-Luise-Brücke sowie das überdimensionierte "Z" auf einem Nebengebäude entdeckt, umkreiste mich ein Auto mit argwöhnischen Grenzschützern. Die hatten bei dem Sauwetter aber offensichtlich keine Lust auf ein Aussteigen. Mit einem Blick auf die riesige russische Fahne am anderen Ufer verließ ich den Ort. Wie gerne wäre ich über den Fluß gegangen!
(Bild zum Vergrößern anklicken)
Erneut fuhr ich über die A 12 / E77, es stand eine lange Fahrtstrecke Richtung Norden auf dem Programm. Die nun auch Via Hanseatica genannte Straße führt über den alten Handelskorridor Lübeck - Danzig - Königsberg - Šiauliai / Schaulen - Jelgava / Mitau - Riga - Valka/Valga [Walk] - Tartu - Narva - St. Petersburg. Die in weiten Teilen schnurgerade verlaufende Straße wurde nur von ganz wenigen Fahrzeugen benutzt und bei Tempo 90 zog sich die Strecke ziemlich langweilig durch Agrarland.
Endlich hörte es auf zu regnen und wurde wieder wärmer. Ich durchquerte Tauroggen (Taurage) mit einem kurzen Zwischenstop am Schloß , bekannt durch der Konvention von Tauroggen 1812 (Waffenstillstand zwischen Preußen und Rußland). Davor hatte ich wieder die alte Nordgrenze des Memellandes überquert.
Die Großstadt Šiauliai (Schaulen) umfuhr ich auf einer neuen Umgehungsstraße, die von abgeernteten Getreidefeldern gesäumt war, überquerte die Staatsgrenze zu Lettland, hielt dann aber in Eleja (Elley), um einen schönen Schloßpark und die Ruinen des alten Herrenhauses zu betrachten. Der nächste Zwischenstop war abseits der Hauptstraße in Vircava (Würzau) zur Besichtigung des barocken Herrenhauses. Überhaupt finden sich um Umland der großen Stadt Jelgava zahlreiche historische Herrensitze und Schlösser.
Bei strahlendem Wetter erreichte ich Jelgava (Mitau), bis 1919 die Hauptstadt von Kurland. Sofort ins Auge fiel mir die orthodoxe Kathedrale in weiß-blauen Farben. Bestens restauriert zeigten sich auch das Gebäude der Academia Petrina und des Schlosses. Die nahegelegene Uferpromenade mit Klanginstallation an der ebenfalls nagelneuen Brücke wirkte schon sehr "westlich".