Um einige freie Tage auszunutzen, entschlossen wir uns im August 2009 zu einem Kurzurlaub in Danzig und Umgebung. Die Idee war entstanden durch die positive Berichterstattung über die Stadt und die mediale Präsenz kurz vor dem 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges. Erleichtert wurde die Umsetzung der Idee dadurch, daß es eine tägliche Flugverbindung von Dortmund aus nach Danzig gibt. Die Linie wird durch den Billigflieger Wizzair betrieben und die Anreise nach Dortmund kostete uns mehr als der Flug nach Danzig. Wizzair setzte einen modernen A 320 ein und der eine Stunde 10 Minuten dauernde Flug verging in Windeseile. Ich hatte das Glück, auf der linken Seite in der Maschine zu sitzen. Somit konnte ich bei wolkenlosem Himmel die Küstenlinie der Ostsee und das Hinterland hervorragend überblicken.
Da Polen seit 2004 zur EU gehört, entfallen die Zollkontrollen bei der Einreise. Wir tauschten am Flughafen einige Zlotys zu einem grottenschlechten Kurs, allerdings wie schon im Reiseführer angekündigt. Aber leider benötigten wir etwas Kleingeld auf dem Weg zum Hotel. Im mehr als überschaubaren Flughafen wartete der Herr der Autovermietung schon auf uns. Wir hatten von Deutschland aus einen Wagen voraus gebucht und erhielten einen nagelneuen Ford. Die Verständigung mit dem Vermieter erfolgte in sehr gutem Englisch.
Ziel für die nächsten Tage war allerdings nicht Danzig sondern der nahegelegene Kurort Zoppot (Sopot). Die Fahrt dahin war ausgesprochen abenteuerlich, denn die Beschilderung war mehr als dürftig. Statt auf der Autobahn zu fahren, landeten wir in den Vororten von Danzig, wo wir uns mangels Schildern an der Sonne zur Bestimmung der Himmelsrichtung orientieren mußten. Nach einer längeren Fahrt über eine breite Zubringerstraße, die von historischen und anscheinend nach dem Kriege errichteten Häusern gesäumt wurde (alle nicht besonders attraktiv), erreichten wir endlich Zoppot. Bei traumhaftem Wetter mit 27° war auf diesem Samstag entsprechend viel Betrieb. Endlich fanden wir unser Hotel, das historische im Jahre 1926 erbaute Grand Hotel, welches nun zum Sofitel Konzern gehört. Wir wurden überaus freundlich empfangen und das Hotel stellte sich als hervorragend heraus. Zu unserem Erstaunen sahen wir im Gartenrestaurant des Fünf-Sterne-Hotels den ehemaligen polnisch/deutschen Boxer Dariusz Michalczewski. Erstaunen deshalb, weil es noch vor wenigen Monaten in der deutschen Presse geheißen hatte, daß der mittlerweile von Hamburg nach Gdingen (Gdynia) gezogene Ex-Profi völlig pleite sei.
Dem Hotel angegliedert ist, wie auch schon bis 1945, ein recht kleines Spielcasino. Dieses wurde anscheinend auch von deutschen Spielern frequentiert, wie die Autos mit Hamburger Kennzeichen vor der Tür verrieten. Genauso wie in Deutschland erfolgt der Zutritt aber auch nur nach Vorlage eines Ausweises.
Den Rest des Tages nutzen wir zu einer ersten Erkundung der Umgebung. Zwischen Hotel und extrem breitem Sandstrand befindet sich nur eine Art Strandpromenade, über die sich extrem viele Menschen bewegten. Auch der Strand war bestens besucht. Wir bogen nach rechts ab in Richtung einer der mit über 500 m Länge längsten Molen Europas.
Zoppots Aufstieg begann im 19. Jahrhundert. Der im napoleonischen Heer dienende Arzt Jean-George Haffner verliebte sich in die Gegend sowie das milde Klima und errichtete nach dem Krieg ab 1823 eine Badeanstalt, ein Bürohaus und einen Seesteg, aus dem die heutige Mole hervorging. Noch bekannter und beliebter wurde der kleine Ort nach dem Anschluß an das Eisenbahnnetz, unter anderem nach Berlin und Warschau ab 1870. Viele Jugendstilvillen, die heute noch bestehen, wurden in der Folgezeit errichtet. Eine ganze Reihe der historischen Gebäude wurden mittlerweile renoviert, andere gerade so erhalten, daß sie noch nutzbar waren.
Zum Betreten der Mode muß man einen geringen Eintrittspreis bezahlen. Rund um das Kassenhaus waren zahlreiche Verkaufsstände für Bernstein aufgebaut sowie Kinderattraktionen. Die Mole selbst, die einen fantastischen Ausblick auf die Danziger Bucht bietet, war voll mit Menschen. Unser weiterer Weg führte uns in die Fußgängerzone. Sofort ins Auge stach die renovierte Badeanstalt (Zakład Balneologiczny) von 1903 mit angeschlossenem Aussichtsturm. Schräg gegenüber befindet sich das ehemalige Kurhaus (Dawny Dom Zdrojowy). Der vorspringende Kuppelbau wurde zur Zeit unseres Besuches in ein modernes Gebäude integriert, welches im historisierenden Stil errichtet wurde. Gleich hinter der Badeanlage erstreckt sich der Süd Park, in der auch die heute einzige evangelische Kirche von Zoppot steht. Wir gingen weiter durch die Fußgängerzone Monte Cassino, die extrem besucht war. Die Straße war gesäumt durch viele noch aus deutscher Zeit stammende, mittlerweile renovierte Gebäude, in deren Erdgeschoß häufig Straßencafés untergebracht waren. Diese waren ausnahmslos bis auf den letzten Platz belegt. Am Ende der Straße erreicht man einen kleinen Platz auf dem sich die im neogotischen Stil errichtete St. Georgskirche (Kościół św. Jerzego) befindet. Bis 1945 war es ein evangelisches Gotteshaus.
Der nächste Tag war dem Besuch der etwa 90 km von Zoppot gelegenen Marienburg gewidmet. Es dauerte einige Zeit, bis wir die Zubringerstraße von Zoppot zur Schnellstraße gefunden hatten. Leider war die Beschilderung auch hier mehr als spärlich. Direkt an der Abfahrt hatte sich ein großes, offenbar erst in jüngster Zeit errichtetes Gewerbe- und Einkaufsgebiet angesiedelt. Die Schnellstraße präsentierte sich als neu sehr gut ausgebaut, die Geschwindigkeitsbegrenzung lag trotzdem bei 110 Stundenkilometern. Etwa auf der Höhe von Danzig befindet sich eine Zahlstation, hinter der die "richtige" Autobahn anfängt: brandneu und in erheblich besserem Zustand als in Deutschland. Wegen der Gebührenpflicht herrschte hier nur geringer Verkehr. Um nach Marienburg zu gelangen mußten wir von der Autobahn links auf die Hauptstraße 22 abbiegen. Die 22 ist eine der Hauptschlagadern im Norden Polens. Sie führt von Stettin (Szczecin) an Marienburg (Malborg) vorbei nach Elbing (Elblag). Von dort geht es weiter über die russische Grenze nach Königsberg (Kaliningrad) mit Anschluß an eine Straße durch die baltischen Staaten. Das Straßenstück nach Marienburg war von unterschiedlicher Qualität. Zu unserem Erstaunen waren mehrere Kilometer sogar noch im originalen Zustand von 1945, das heißt mit "Katzenköpfen"-Kopfsteinpflaster gepflastert. Ich durfte mir gar nicht vorstellen, welche Dramen sich hier in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges abgespielt hatten!
Im Ort Malborg selbst war die Infrastruktur ganz auf die Besichtigung der Marienburg ausgerichtet, Parkmöglichkeiten wurden frühzeitig angekündigt. Die Parkgebühren waren für polnische Verhältnisse unverschämt und lagen nur wenig unter dem Eintrittspreis für die Burg selber.
Die Marienburg, eine ab dem 13. Jahrhundert errichtete Anlage des Deutschen Ordens, ist die größte Backsteinburg des europäischen Kontinents und zählt zu den berühmtesten Architekturdenkmälern Europas. In den Jahren 1309 bis 1457 war die Marienburg die Hauptstadt des Kreuzritterstaats und Sitz des Hochmeisters. Nach dem Frieden von Thorn 1466 fiel die Burg an Polen. Durch die Erste Polnische Teilung 1772 wurde unter anderem Westpreußen, und damit auch die Marienburg, von Preußen annektiert. Im Zweiten Weltkrieg kam es von Januar bis März 1945 zu schwersten Kämpfen um die Burg, auf der sich die Wehrmacht festgesetzt hatte. Da die sowjetische Armee von Südosten angriff, wurde vor allem dieser Bereich der Burg schwerstens zerstört.
Als wir die Burg an einem Sonntag bei erneut 27 Grad besichtigen wollten, trauten wir unseren Augen nicht: wir sahen die Burg vor lauter Menschen nicht! Ärgerlich war auch das Faktum, daß eine Besichtigung nur zwangsweise im Rahmen einer Führung stattfinden konnte. Diese auch auf Deutsch verfügbaren Führungen sollten planmäßig schon drei Stunden dauern, waren wegen des extremen Menschenandrangs aber noch länger. Dies war auch für geschichtlich interessierte Besucher eindeutig zu lang, zu viel und zu detailliert. Schade eigentlich.
Die Burg selbst, gegliedert in Niederburg, Mittelburg, Hochmeisterpalast und Hochburg ist mehr als eindrucksvoll. In der Burg befinden sich außerdem ein Bernstein- und ein Waffenmuseum. Die Restaurierung der gesamten Burg ist überwiegend abgeschlossen, einzig die Marienkirche läßt noch erahnen, wie zerstört der gesamte Gebäudekomplex nach dem Krieg war.
Etwa auf halber Strecke zwischen Danzig und Zoppot liegt das zu Danzig gehörende Stadtviertel Oliva. Man sagt, es sei Danzigs beste Wohngegend und in einer der Patriziervillen wohnt auch Lech Wałęsa, Begründer der Solidarność. Hauptattraktion des Ortes ist aber die wunderschöne Kathedrale, die sich inmitten einer Klosteranlage befindet. Diese Anlage ist das Werk der Zisterziensermönche, die 1178 in das Land kamen, um die "Heiden" zu zivilisieren. Nach der Ersten Polnischen Teilung 1772 wurden vom preußischen Staat alle Zisterziensergüter konfisziert, 1831 das Kloster dann gänzlich aufgehoben.
Die Kathedrale, deren älteste Teile aus der Zeit um 1200 stammen, beeindruckt durch ihre Größe und dem trotzdem filigranen Äußeren. Wir hatten das Glück, daß zur Zeit unseres Besuches gerade ein Orgelkonzert stattfand. Die Akustik war beeindruckend! Zur weiteren Anlage gehören die Kreuzungsgänge des Klosters, der Palast der Äbte (Palac Opacki), der Abteispeicher (Spichlerz Opacki), eine Orangerie (Palmaria) und eine weitläufige Gartenanlage.
Unseren Besuch der Altstadt Danzigs hatten wir extra auf einen Montag gelegt, in der Hoffnung, die Stadt nicht ganz so überfüllt vorzufinden, denn es herrschte immer noch traumhaftes Wetter und Temperaturen von 27 Grad.
Auf Anraten der Hotelconcierge entschlossen wir uns, nicht mit dem Auto, sondern mit der Bahn in die Stadt zu fahren. Im Bahnhof von Zoppot mußten wir uns erst einmal orientieren, denn die Fahrscheine für die Stadtbahn SKM werden nicht an den regulären Schaltern verkauft. Kurze Zeit später rumpelte der in kurzen Abständen verkehrende, betagte Zug in den kleinen Bahnhof und nur 20 Minuten später erreichten wir den Hauptbahnhof von Danzig. Dieser erstrahlte in alter kaiserzeitlicher Pracht. Kontrapunkt dazu war nach der Unterquerung einer mehrspurigen Straße ein moderner Kino- und Einkaufskomplex. Nur wenige Schritte weiter hatten wir die sogenannte Altstadt erreicht.
Danzig ist eine Stadt mit reicher Historie. Das historische Zentrum der Stadt gliedert sich in mehrere Bereiche, die früher eigenständige Viertel bildeten. Im Norden liegt die Altstadt (die bis 1945 ursprünglich von Slawen bewohnt war). Südlich angrenzend befindet sich die früher überwiegend von wohlhabenden, meist deutschen Kaufleuten bewohnte Rechtstadt. Noch weiter südlich liegt die Alte Vorstadt. Darin befanden sich einst meist Handelshäuser, Speicher und zahlreiche Handwerksbetriebe. Größte Anziehungskraft für Touristen hat die Rechtstadt. Diese war im Zweiten Weltkrieg zu über 90 % zerstört worden, aber bereits 1952 begann der polnische Staat mit einer originalgetreuen Restaurierung des gesamten Viertels. In der Altstadt hingegen wurden nur ausgewählte Objekte rekonstruiert und in der alten Vorstadt findet man noch weniger restaurierte Gebäude.
Vom Bahnhof aus erreichten wir in wenigen Minuten das Altstädtische Rathaus (Ratusz Staromiejski), welches zur Zeit unseres Besuches gerade renoviert wurde. In Sichtweite des Rathauses am Flüßchen Radaune liegt die Große Mühle (Wielki Młyn), um 1350 vom Deutschen Orden errichtet und noch bis 1945 in Betrieb. Heute ist in ihr ein Einkaufszentrum untergebracht. Nur wenige Meter weiter auf der anderen Straßenseite steht die mittelalterliche kleine Mühle (Mały Młyn), die immerhin auch noch fünf Mühlräder zählte. In unmittelbarer Nachbarschaft der beiden Mühlen erhebt sich die Katharinenkirche (Kościół św. Katarzyny), 1185 gestiftet und damit eines der beiden ältesten Gotteshäuser Danzigs. Die Kirche ereilte ein tragisches Schicksal. Die im Krieg ausgelagerte originale Ausstattung nahm bei einem gewaltigen Dachstuhlbrand vor einigen Jahren ziemlichen Schaden. Im Schatten der Katharinenkirche steht die im 16. Jahrhundert erbaute Brigittenkirche (Kościół św. Brygidy).
Denkwürdig war die Besichtigung der unweit gelegenen Polnischen Post (Poczta Polska) , denn unser Besuch fand nur 14 Tage vor dem 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs statt. Am 1.9.1939 verteidigten sich hier die polnischen Angestellten der Post gegen deutsche Angreifer (Danzig stand seit dem Ende des Ersten Weltkriegs als "Freie Stadt" unter dem Schutz des Völkerbunds und verfügte über eine deutsche und eine polnische Post). Am gleichen Tag beschoß auch ein deutsches Kriegsschiff das polnische Munitionsdepot auf der Westerplatte, einer Halbinsel an der Mündung der Weichsel.
Wir wandten uns nunmehr der Rechtstadt zu. Nach Überquerung des früheren Altstädtischen Grabens (Podwale Staromiejskie) sah man bereits einen der Türme der alten Stadtbefestigung sowie die im neugotischen Stil erbaute Markthalle (Hala Targowa). Auf dem Bürgersteig davor hatten offensichtlich Privatleute ihre kleinen Stände aufgebaut und verkauften Obst und Gemüse. Bedauerlicherweise konnten wir die direkt dahinter gelegene Nikolaikirche (Kościół św. Mikołaja) nicht besichtigen, da ein Gottesdienst stattfand. Sie ist eine der wenigen Kirchen, die das Inferno von 1945 unzerstört überstanden haben. Ganz im Gegensatz dazu wurde die an der gleichen Straße gelegene Johanniskirche (Kościół św. Jana) sehr stark zerstört. Eine Besichtigung ist wegen der immer noch stattfindenden Renovierungsarbeiten nicht möglich. Bedenklich schief neigt sich die zur Mottlau gelegener Rückwand der Kirche, ganz offensichtlich trägt der Untergrund hier das schwere Gebäude nicht. Nur wenige Schritte weiter durchquert man das Johannistor (Brama Świętojańska) und steht unvermittelt am Mottlauufer.