Eine Reise nach Tschechien

Nachdem uns im Sommer zuvor der Urlaub in Ungarn so gut gefallen hatte, wollten wir in diesem Jahr (Mai 1998) das ebenfalls ehedem dem Ostblock angehörende Tschechien besuchen. Unsere Wahl fiel auf den historischen Kurort St. Joachimsthal (Jáchymov) im Erzgebirge, da mein Freund im Urlaub auch einige Kuranwendungen nehmen wollte.

Auf dem Hinweg besuchten wir noch eine ehemalige Studienkollegin von mir, die es aus beruflichen Gründen nach Thüringen verschlagen hatte. Schließlich überquerten wir bei Selb die Grenze zur Tschechischen Republik. Dies wurde sofort sichtbar durch die zahlreichen Prostituierten, die an der Hauptstraße patroullierten und auf deutsche Kunden warteten. Das konnte ja heiter werden! Über Franzensbad (Frantiskovy Lázne) ging es nach Karlsbad (Karlovy Vary). Dort gerieten wir aus Unachtsamkeit in einen für Autos gesperrten Bereich und erhielten prompt ein Ticket. Über Schlackenwerth (Ostrov) führte uns die Hauptstraße die Berge hinauf, bis wir endlich Jáchymov und unsere vorab gebuchte Unterkunft erreichten.

Der Radium Palace ist ein bereits im Jahre 1912 errichtetes Sanatorium und war noch schöner, als in den Prospekten beschrieben. Erst im Jahr zuvor war es komplett renoviert worden und strahlte in altem Glanze. Wir erhielten ein traumhaftes Zimmer im ersten Stock mit Blick auf die vorderen Gartenanlagen.

Am nächsten Tag schauten wir uns ausgiebig den Ort an. St. Joachimsthal schaut auf eine sehr bewegte Geschichte zurück, die man heute in der Architektur nur noch erahnen kann. Im Mittelalter waren hier reiche Silbervorkommen entdeckt worden und aus diesem Silber wurde ab 1520 der sog. "Joachimsthaler" geprägt, der später dem amerikanischen Dollar als Namensgeber dienen sollte. Die Stadt florierte durch den Bergbau so stark, daß sie mit 20.000 Einwohnern zur zweitgrößten Stadt Böhmens avancierte. Heute beherbergt sie keine 3.000 Einwohner!
Schicksalhaft waren dann die Vorkommnisse im 19. Jahrhundert. Statt Silber förderten die Bergleute immer häufiger ein schweres Gestein namens Pechblende. Da zur gleichen Zeit auch der Planet Uranus entdeckt worden war, benannte man Pechblende in Uran um. Als dann ein k. k. Hüttenchemiker herausfand, daß man aus dem Uran schöne Farben herstellen konnte, die zur Bemalung des böhmischen Glases verwendet werden konnte, entstand neben der Silberhütte nun auch noch eine Uranfarbenfabrik in St. Joachimsthal.
Ende des 19. Jahrhunderts erforschten auch Marie und Pierre Curie die rätselhaften Strahlen, die die Radioaktivität verursachten, denn 1895 waren die Röntgenstrahlen entdeckt worden. Die Curies erhielten einen Tonne Abfallerz aus der Uranfarbenfabrik und entdeckten hierin das strahlende Material Radium. Für diese Entdeckung erhielten sie, zusammen mit Henry Bequerel, 1903 den Nobelpreis für Physik. Auf Grund dieser Entdeckung wurde in St. Joachimsthal 1906 das erste Radiumbad der Welt gegründet. Schon die früheren Bergleute hatten über die positiven Wirkungen des Grubenwassers bei Erkrankungen des Bewegungsapparates berichtet.
Das Radium Palace Kurhotel, in dem wir nun auch wohnten, wurde somit 1912 eröffnet und zählte zu den besten in ganz Europa. Hier verkehrte wirklich nur die High Society der Zeit.
1938 kamen die Uranerzgruben zum Deutschen Reich und mit einer Probe des Joachimsthaler Erzes gelang Otto Hahn dann Spaltung des Atomkernes. Das Atomzeitalter hatte begonnen!
Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg bedeutete den Niedergang des Ortes. Aufgrund der Benes-Dekrete wurden alle Bürger deutscher Nationalität, immerhin ca. 95 % der Einwohner, vertrieben und durch Tschechen ersetzt. Zudem mußten in ca. 30 Schächten Kriegsgefangene und politische Häftlinge unter unbeschreiblichen Bedingungen Erz fördern. Erst in den 1960er Jahren wurden diese Schächte, bis auf einen, in dem auch heute noch das heilende Radonwasser gewonnen wird, geschlossen und danach etablierte sich langsam wieder der Kur- und Wintersportbetrieb in der Region.

Leider haben vor allem die Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg z.Zt. der Zwangsarbeiter und des russischen Personals Bereiche der Stadt nachhaltig ruiniert. Allenfalls einen Eindruck vom mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Glanz erhält man beim Gang über die "Hauptstraße", die zur Kirche führt. Viele der kleinen Häuser, die sich dicht an dicht den Hang hinauf ziehen, sind eindeutig noch aus dem 16. und 17. Jahrhundert und die verzierten Türportale sprechen vom Reichtum der ehemaligen Besitzer. Heute sind sind in einem miserablem Zustand, mit abblätternder Farbe und / oder Putz und wirrem Kabelsalat an den Fassaden. Baulücken zeugen vom Abriß einzelner Häuser des einst geschlossenen Bestandes. Ich fühlte mich wie mit der Zeitmaschine in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückversetzt. Welch' ein Kleinod würde man hier vorfinden, wenn alleine schon die Fassaden instandgesetzt würden!

Fast am oberen Ende der Straße findet sich das aus der Renaissancezeit stammende, große Rathaus (1531), für den heutigen Ort völlig überdimensioniert und ebenfalls in einem erbarmungswürdigen Zustand. Noch ein Stückchen weiter hoch steht das Wahrzeichen der Stadt, die St. Joachims-Kirche (1534), die sich allerdings in bestens renoviertem Zustand zeigte. Ebenfalls renoviert war das älteste erhaltene Bauwerk der Stadt, das Spitalkirchlein (1520) in der Nähe des Stadtzentrums. Auch der Schlick-Turm, Überrest einer Burg aus dem 16. Jahrhundert an der westlichen Stadtseite, war restauriert.

Das Stadtzentrum war leider gar nicht mehr historisch geprägt. Um die große Kreuzung herum steht ein noch von Russen erbautes "Kulturhaus" im Stil der 1950er Jahre und zudem grau in grau sowie das 1992 erbaute neue Kurhaus Curie, welches allerdings trotz des Baudatums noch das zweifelhafte Flair der sozialistischen Zeit ausstrahlt. Welch ein Unterschied zu unserem Haus!

Schade, daß es sich bei dem Radium Palace um ein Sanatorium handelte. Hier könnte man problemlos auch ein Grandhotel unterbringen! Für uns gewöhnungsbedürftig waren die Gäste, bei denen es sich ausschließlich um Kurgäste handelte. Gut, das hätte man sich bei der Buchung denken können, hatten wir aber nicht unbedingt.... Altersdurchschnitt war sicherlich so um die 60 und die Gäste teilten sich vielleicht zu 70 % in Tschechen und 30 % Ausländer, meist Deutsche, auf.

Wir teilten unseren Frühstückstisch mit zwei älteren deutschen Damen, mit denen wir uns bald rege unterhielten. Mir war schon zu Anfang aufgefallen, daß die eine Frau offenbar fließend tschechisch sprach, was ja eher ungewöhnlich ist. Nach und nach rückten sie mit der Sprache raus. Beide stammten gebürtig aus dem nahegelegenen Schlackenwerth und waren samt Familien 1946 durch die Benes-Dekrete gezwungen worden, ihre Heimat zu verlassen. Bildhaft schilderten sie, wie ihre Familien von tschechischem Mob innerhalb von einer halben Stunde aus ihren Häusern geworfen wurden. Jeder durfte nur einen Koffer, natürlich ohne Wertsachen, mitnehmen. Da die Großmutter der älteren Frau Tschechin war, war sie von klein auf zweisprachig aufgewachsen. Die jüngere Frau sprach nur etwas tschechisch, verstand es aber gut.

Jedenfalls hatten die traumatischen Ereignisse der damaligen Zeit bei den beiden einen ziemlichen Haß auf die Tschechen ausgelöst, den sie nun teilweise an der Bedienung des Speisesaals ausließen. OK, die Frauen, die dort arbeiteten, hatten vielleicht mental noch nicht ganz die Wende zur Dienstleistungsgesellschaft geschafft und lästerten vermutlich dann und wann über die anspruchsvollen Deutschen auf tschechisch. Das ging ja nun nicht mehr mit den beiden Frauen an unserem Tisch. Diese "ahndeten" jede "Fehlleistung" der Bedienung auf tschechisch im entsprechenden Tonfall. Verstehen brauchte ich das wirklich nicht! Die Bedienung war genervt und warf sich entsprechende Blicke zu. Ich saß zwischen den Stühlen, konnte sowohl die beiden Frauen verstehen, die gewaltsam ihre angestammte Heimat verloren hatten, als auch die Bedienung, die aus dem gewohnten Trott gerissen wurde.

Daß wir in einem Sanatorium und nicht in einem Hotel wohnten, wurde uns dann schon am ersten Abend schnell klargemacht. Wir saßen in einem dieser wunderschönen Säle mit Marmorsäulen, Spiegeln und riesigen Kronleuchtern unter der Decke. Im Raum befand sich auch eine Art Bar, in der man Getränke, u.a. tschechischen Rýnský Ryzlink (= rheinischer Riesling) trinken konnte. Auf einmal um 10 Uhr begaben sich alle anderen Gäste auf ihre Zimmer. Wie bitte? Ein Hotelangestellter erklärt uns, um 10 Uhr sei Nachtruhe angesagt, schließlich handele es sich bei den Gästen um Patienten. Nach zähen Verhandlungen erklärte er sich bereit, uns sitzen zu lassen. Alle, bis auf einen Kronleuchter wurden ausgeschaltet. Nunmehr verbrachten wir jeden Abend ab 10 Uhr in einem üppigen Saal bei Beleuchtung aus einem Kandelaber! Bei der Bar hatten wir uns immer eine Flasche des durchaus trinkbaren Ryzlinks gebunkert und so ließ es sich leben. Die Frauen, die an der 24 h besetzten Rezeption Dienst schieben mußten, grinsten. So was hatten sie wohl auch noch nicht erlebt.

In Jáchymov war wirklich der letzte Hund begraben. Ausgehen konnte man auch nicht, das Essen im Sanatorium, bis auf der Frühstück, war auch nicht so nach unserem Geschmack, so entschlossen wir uns zu erkunden, wie weit es bis zur Grenze nach Deutschland war. Verfehlen könne man die Grenze nicht, hatte man uns gesagt, man müsse nur der Straße am Rathaus vorbei folgen.

Gesagt, getan. Steil schlängelte sich die Straße in Serpentinen den bewaldeten Abhang des Erzgebirges hoch, bis wir auf einmal eine Hochebene erreichten. Dort konnte man eine staatliche Naturreservation "Torfmoorgebiet" mit Lehrpfad besichtigen, der in die Besonderheiten der Gegend einführte. Kurz drauf erreichten wir das Nest Bozí Dar (Gottesgab), 1028 m hoch gelegen und schon in Sichtweite der Grenze. Der noch zur Zeit des 30jährigen Krieges florierende Ort war nach dem 2. Weltkrieg fast völlig verlassen worden. Mit der Öffnung des Grenzüberganges 1989 war der Häuseransammlung wieder eine ungeahnte Bedeutung zugekommen. Unvermeidbar war natürlich auch der obligatorischen Vietnamesenmarkt mit viel nachgemachtem Krimsekt und anderem Krempel, der aber wohl bei den vielen Touristen und Bewohnern der Orte auf der deutschen Seite, hoch im Kurs standen.

Kurz darauf erreichten wir den Grenzübergang nach Deutschland. Dies sollte die EU-Außengrenze sein? Sämtliche Sperrzäume waren abgebaut worden und offenbar verlief die Grenze auf weiten Strecken durch einen dichten Wald. Hätten nicht überall die Grenzschilder gestanden, wäre der Grenzbereich gar nicht aufgefallen! In den nächsten 2 Wochen überquerten wir häufig die Grenze in beide Richtungen, erstaunlicherweise, bis auf einmal, völlig problemlos. Das eine Mal wollten wir wieder nach Tschechien einreisen, als uns ein Grenzer aufhielt und in breitesten sächsisch fragte, wo wir denn mit dem "dicken Wagen" - gemeint war der Audi - hinwollten? Autos in den Ostblock verschieben? Nachdem er uns gründlich durchgecheckt und für harmlos erachtet hatte, taute er auf und ließ sich auf ein Gespräch ein. Durch ihn erfuhren wir von den Vorgängen an der Grenze. Mein Eindruck hatte mich nicht getäuscht. Offenbar regelmäßig versuchten hier Schlepper, Flüchtlinge in den EU zu schmuggeln, samt Kind und Kegel bei Nacht durch die Wälder, die durchlässig wie ein Schweizer Käse seien. Sie, die Grenzer, könnten nur Schadensbegrenzung betreiben. Es sei schon schlimm, solche völlig heruntergekommenen Gruppen aufzugreifen.
Der absolute Witz war, wie wir kurz drauf feststellten, die deutsch-tschechische Grenze in Oberwiesenthal, dem ersten Ort hinter der Grenze. Ein winziger Graben von vielleicht 50 cm breite fließt am Ortsrand vorbei und teilt den Ort. Überall über den Graben führen Stege, an einer Stelle eine Überfahrt. Auf tschechischer Seite war wieder ein Vietnamesenmarkt und der Grenzübertritt zu Fuß wurde überhaupt nicht kontrolliert. Ich dachte, ich sei im falschen Film!

Oberwiesenthal ist Kurort, die am höchsten gelegene Stadt Deutschlands (914 m) und Zentrum des Wintersports im Erzgebirge mit den entsprechenden Einrichtungen wie z.B. drei Ski-Sprungschanzen. Das Städtchen präsentierte sich von seiner besten Seite, nett herausgeputzte Häuschen mit Restaurants und Geschäften, in denen vorzugsweise das traditionelle erzgebirgische Holzkunstwerk angeboten wurde. Von nun an fuhren wir fast täglich abends nach Oberwiesenthal zum Essen und Einkaufen von Illustrierten. Der Grenzer hatte gelacht, als wir ihm das erzählten. Er sagte, die Sachen führen nach Tschechien zum Essen, weil es dort so billig sei. Unser Geschmack war die schwere böhmische Küche allerdings nicht!