Eine Fernsehdokumentation auf ARTE hatte mich im Sommer auf die Idee gebracht, St. Petersburg zu besuchen. Fasziniert hatte mich in der Stadtgeographie immer schon die Planstadt, und St. Petersburg ist als Planhauptstadt ein Musterbeispiel.
Los gehen sollte es Ende August, Anfang September 2016 vor dem Ende der wetterbedingten Reisesaison.
Sankt Petersburg ist mit 5 Millionen Einwohnern die nach Moskau zweitgrößte Stadt Rußlands und die viertgrößte Europas. Gleichzeitig ist sie die nördlichste Millionenstadt der Welt. Die Stadt wurde 1703 von Peter dem Großen auf Sumpfgelände nahe dem Meer komplett neu gegründet, um den Anspruch Rußlands auf Zugang zur Ostsee durchzusetzen. Über 200 Jahre lang trug sie den heutigen Namen, von 1914 bis 1924 hieß sie Petrograd, weil man sich im Ersten Weltkrieg von der deutschen Bezeichnung Petersburg lösen wollte. Von 1924 bis 1991 wurde sie zu Ehren von Lenin, dem Gründer der Sowjetunion, Leningrad genannt. Nach einer Volksabstimmung kehrte man 1991 zum alten Namen Petersburg (auf Russisch Peterburg) zurück, behielt aber für den umgebenden Oblast die Bezeichnung Leningrad.
Die Stadt war vom 18. bis ins 20. Jahrhundert die Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches, ist ein europaweit wichtiges Kulturzentrum und beherbergt den wichtigsten russischen Ostseehafen. Die historische Innenstadt mit 2.300 Palästen, Prunkbauten und Schlössern ist Weltkulturerbe der UNESCO und wird in dieser Hinsicht weltweit nur noch von Venedig übertroffen.
Allerdings bedarf eine Reise in die Russische Föderation anderer Vorbereitungen als Reisen z.B. innerhalb der EU. Größtes und ärgerlichstes Hindernis ist die Beantragung eines Visums, welches nicht nur recht teuer, sondern auch noch mit ziemlichem Aufwand verbunden ist. Exemptiert sind allerdings Kreuzfahrtreisende auf der Ostsee, die nicht länger als 72 Stunden in der Stadt bleiben. Da die russischen Konsulate grundsätzlich keine Postanträge bearbeiten, ist es am sinnvollsten, einen professionellen Visumservice in Anspruch zu nehmen. Meine Recherche ergab, daß die Preise recht unterschiedlich sind und es scheinbar nur einen Dienst gibt, der für die obligatorische Einladung und das Visum an sich (30tägiges Touristenvisum für einmalige Einreise) unter 100 € verlangt. Ich habe mit Russwelt Reisen sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Abwicklung ging nach Vorlage der entsprechenden Unterlagen (u.a. Nachweis einer Auslandskrankenversicherung und einer Verdienstbescheinigung!) schnell und professionell. Glücklicherweise entfiel bei mir die örtliche Registrierungspflicht, da ich weniger als sieben Werktage im Lande war.
Obligatorisch für mich waren die Auffrischung aller gängigen Impfungen sowie eine Neuimpfung gegen Hepatitis A, die vor bösen Überraschungen im Lebensmittelbereich schützt. Aufgefrischt habe ich auch meine Kenntnisse im Lesen von kyrillischen Großbuchstaben, zusätzlich diesmal erweitert durch das Neu-Erlernen der kursiven Groß- und Kleinbuchstaben, die der Schreibschrift ähneln und sich elementar von den aufrechten Formen unterscheiden.
Via Zubringerflug startete die Reise ab Frankfurt mit Lufthansa und bald überflogen wir an dem sonnigen Tag mit bester Sicht die prägnante Küstenformation der Kurischen Nehrung. Welch' ein Zufall, hatte ich mir doch vor kurzem einen Bildband über die jetzige Situation im Oblast Kaliningrad und Litauen, dem ehemaligen nördlichen Ostpreußen samt Memelland gekauft. Die Bilder der großteils in desolatem Zustand befindlichen Backsteingotikgebäude schossen mir wieder unwillkürlich durch den Kopf.
Nach 2,5stündigem Flug erreichten wir St. Petersburg Pulkovo Airport. Die Zollabfertigung ging schnell, das Abholen des Gepäcks leider nicht… am Gate erwartete mich der Bruder meiner ehemals in Donezk wohnenden Freunde und los ging es zu dem nahe dem Flughafen gelegenen, gigantischen, supermodernen Einkaufszentrum Leto. Das hatte ich so nicht erwartet: hier waren alle internationalen Marken vertreten und das Zentrum hätte auch in den USA stehen können. Wir besuchten die Megafon Filiale, einen St. Petersburger Telefonanbieter, zum Erwerb einer russischen SIM-Karte. Hier war ich froh, einheimische Unterstützung dabei zu haben, denn die Vertragsausfertigung stellte sich als etwas kompliziert dar.
Endlich war es geschafft und weiter ging es zum Stadtzentrum. Die Fahrt erinnerte mich ein bißchen an Breslau: am Stadtrand der nagelneue Gewerbegürtel mit Autohändlern, Bau-, Elektro- und Einrichtungsmärkten (Obi, Media Markt und IKEA usw.), dann verkommene Industrieanlagen und schließlich die alte Innenstadtbebauung.
Da ich ein Ein-Zimmer-Apartment gebucht hatte, mußten wir als erstes zum Büro des russischen Anbieters STN-Apartments und die Formalitäten ausfüllen. Die jungen Frauen (Studentinnen?) hinter der Rezeption sprachen ausgezeichnet Englisch und händigten mir den Schlüssel zur Wohnung aus. Diese hatte ich weniger nach Schönheit, sondern nach zentraler Lage ausgesucht und wurde nicht enttäuscht. Unweit des Newskij-Prospekts - "der" Stadtmagistrale - nahe der riesigen Kasaner Kathedrale erwarteten mich als erstes aber die Tücken des russischen Sicherheitssystems: in der Front des gründerzeitlichen Gebäudes führte ein mit einem Eisentor gesicherter Durchgang in einen Innenhof. Das Tor öffnete sich nur nach Eingeben eines Codes. Der Innenhof war, sagen wir mal, rustikal. Die Tür zum Hinterhaus, wieder nach deutschen Standards gewöhnungsbedürftig, war wieder codegesichert und der Flur des alten Haus war, nun ja, alt, und erinnerte mich u.a. mit den haarsträubenden Elektroinstallationen an Zustände in Donezk. Also gingen wir ein Stockwerk hoch und standen erneut vor einer codegesicherten Tür, die in einen renovierten Flur führte. STN hat augenscheinlich aus einer großen Wohnung vor nicht allzu langer Zeit mehrere kleine Studios gemacht. Meins war absolut funktional und OK. Der Urlaub konnte beginnen!
Mein russischer Bekannter und ich verabredeten uns für den nächsten Tag, Sonntag, zu einer Fahrt nach Zarskoje Selo, einer der ehemaligen Zarenresidenzen und gelegen außerhalb St. Petersburgs im Ort Puschkin. Die Fahrt dorthin war für mich interessant, erfuhr ich doch viel vom Leben in der Stadt und den engen Beziehungen der Bewohner zum angrenzenden Finnland. Helsinki ist nur einige Stunden mit dem Auto entfernt und Ryanair fliegt auch eine grenznahe finnische Stadt an und ermöglicht den Petersburgern preiswerte Reisen ins südlich gelegene Europa.
Bei strahlendem Sonnenschein und etwa 17 Grad erreichten wir eine "der" Attraktionen Petersburgs, wenn nicht gar Rußlands. Zarin Elisabeth, Tochter von Peter dem Großen und Katharina I., ließ hier vom Architekten Rastelli in den Jahren 1752-1756 das Pendant zum städtischen Winterpalast bauen und nannte den neuen Palast zu Ehren ihrer Mutter "Katharinenpalast". Der pastellblau und weiß gehaltene Palast mit den goldenen Verzierungen glänzte im Sonnenschein als wir ihn erreichten. Der Besucherandrang war schon nicht unerheblich, als wir an die Kasse traten. Ausländische Besucher sollen übrigens exakt den doppelten Eintrittspreis bezahlen wie Russen. Wie gut, wenn man in entsprechender Begleitung ist… schubweise wurden wir nun durch ausgewählte Räumlichkeiten des Palastes geschleust. Theoretisch darf man sich frei bewegen, ist aufgrund der Menschenmengen aber abhängig von der Geschwindigkeit der gesamten Besuchermasse. Schön ist etwas anderes.
Im Palast treffen verschiedene Epochen und Kunstrichtungen aufeinander. Die prachtvolle barocke Helle Galerie, der größte Saal des Katharinenpalastes mit 800 qm, wie auch die Goldene Zimmerflucht von Rastrelli lassen die Besucher der Residenz den Prunk der vergoldeten Räume bewundern, wobei die klassizistischen Räume, die darauf folgen, eher die Atmosphäre der Ruhe verbreiten.
Ein besonderes Kapitel im Palast verdient das sagenumwobene Bernsteinzimmer. Einst vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. Peter dem Großen im Tausch gegen hochgewachsene russische Männer für seine "langen Kerls" überlassen, schafften es die deutschen Besatzungstruppen im 2. Weltkrieg - nebst anderem Kunstschätzen - außer Landes. Über den Verbleib des Bernsteinzimmers wird immer noch spekuliert. Jedenfalls wurde in den 1970er Jahren mit der Rekonstruktion begonnen und befeuert durch einen enormen Zuschuß der Ruhrgas AG konnte die perfekte Kopie zum 300. Geburtstag der Stadt 2003 fertigstellt werden. Der Eindruck, den der Raum hinterläßt, ist singulär, surreal…
Das Interieur des Palastes imponiert um so mehr, als es komplett wiederaufgebaut wurde. Die Deutsche Wehrmacht hatte den Palast im Krieg besetzt und ein Trümmerfeld hinterlassen. Die nachfolgenden Bombardierungen gaben dem Palast den Rest. Im Gebäude hängen diverse Photos aus der deutschen Zeit und der Anstrengungen zur Restaurierung nach 1945. Ein Meisterwerk!
Der Palast ist von einem 100 Hektar großen Park umgeben, der zahlreiche kleine Pavillions, Plastiken und malerische Teiche beherbergt und zweiteilig besteht aus dem barocken, französischen Garten und dem schattigen, englischen Landschaftspark. Wir gingen vorbei am Chinesischen Dorf zur ebenfalls chinesischen Pagodenbrücke, von dort zur Marmorbrücke, die auch in England stehen könnte, vorbei an der "Pyramide" und dem türkischen Bad, welches wie eine Moschee aussieht zur "Grotte", zu einem Pavillion mit wundervollem Ausblick auf den "Großen Weiher". Hinter der Grotte beginnt der streng geschnittene französische Garten.
Da wir am frühen Nachmittag bereits wieder St. Petersburg erreichten, nutzte ich die restliche Zeit zu einem Spaziergang entlang des nordwestlichen Teils des Newskij-Prospektes. Als erstes besichtigte ich natürlich die unweit meines Apartments gelegene Kasaner Kathedrale, am Sonntag nicht nur von Touristen, sondern auch von zahlreichen Gläubigen besucht. Der Bauherr der Kirche, Zar Paul I., hatte vom Architekten gefordert, den Petersdom zum Vorbild zu nehmen und so geschah es auch. Die Kirche, zu sowjetischer Zeit zum "Museum des Atheismus" umfunktioniert, erfüllt heute wieder ihre ursprüngliche Funktion. In der Kathedrale fand auch Generalfeldmarschall Kutusow seine letzte Ruhe. Er war derjenige, der Napoleons Armee 1812 endgültig aus Rußland vertrieb.
Ich folgte dem Newskij-Prospekt weiter nach Nordwesten. Vorbei ging es am barocken Stroganow-Palast, ganz in rosa und weiß gehalten, und bis 1917 Wohnsitz der gleichnamigen steinreichen Familie, bekannt durch ihr Mäzenatentum und Namensgeberin des bekannten Boeufs. Auf der anderen, nördlichen Straßenseite, steht die Petrikirche, nach früherer Schließung nun wieder Zentrum der deutschen Lutheraner der Stadt und Sitz des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums.
Am Ende der Prachtstraße, ca. 1 km von der Kasaner Kathedrale entfernt, befindet sich die durch ihre goldene Nadel auf dem Dach unverkennbare Admiralität, eine Marinekadettenanstalt erbaut in den1730er Jahren. Zu Zeiten Peters des Großen hatte dieser hier eine riesige Werft anlegen lassen, die zur Wiege seiner zivilen und militärischen Ostseeflotte wurde. Vorausgegangen war, daß sich der Zar im Krieg gegen Schweden einen Zugang zur Ostsee erkämpft hatte.
Das Gebäude wird heute von einem schönen Park flankiert und auf seiner Rückseite am Flußufer der Newa befinden sich diverse Bootshaltestellen, u.a. auch die der Tragflächenboote, die nach Peterhof fahren. Ich erkundigte mich nach dem Fahrplan und ging weiter zum nahegelegenen Winterpalast, der ebenfalls an die Newa grenzt. Imponierend davor ist der riesige Schloßplatz, entworfen, wie auch das gegenüber dem Winterpalast liegende 580 Meter lange Generalstabsgebäude, vom italienischen Architekten Carlo Rossi. Der sechsspännige Streitwagen auf dem Gebäude erinnerte mich an das Brandenburger Tor. Mitten auf dem Schloßplatz steht die Alexandersäule, errichtet anläßlich des Sieges über Napoleon. Auf dem Platz boten zur Zeit meines Besuchs einige Kutscher ihre Dienste an. Nichts erinnerte mehr an die blutige Geschichte des Platzes: 1905 hatte der letzten Zar hier auf streikende Arbeiter schießen lassen und nur 12 Jahre später stürmten von hier aus die Bolschewiki (unblutig) seine Residenz. Der in seinem Amt weitgehend unfähige Regent hatte zu der Zeit bereits abgedankt und der Winterpalast war Sitz der provisorischen Regierung.
Leider hatte am nächsten Tag das Wetter umgeschlagen, es war kalt und regnerisch. Was also tun? Da es Montag war, waren die meisten Museen geschlossen - bis auf das russische Museum, welches ich folglich besuchen wollte. Gegenüber der Kasaner Kathedrale lud mich vorher das wundervolle Dom Knigi zu einem Besuch ein. Der Jugendstilbau wurde 1904 von der amerikanischen Singer Manufacturing Company erbaut und ist ein Augenschmaus (am besten von der gegenüberliegenden Straßenseite aus zu betrachten). Heute beherbergt das Gebäude die größte Buchhandlung der Stadt und alles, was der interessierte Tourist sucht.
Da das Buchhaus an der Ecke des Gribojedow-Kanals steht, kann man von hier aus bereits die sicherlich prägnanteste Kirche der Stadt sehen: die Erlöserkirche. Sie wurde vom Sohn des an dieser Stelle ermordeten Zaren Alexander II. als Memorial 1907 errichtet und als Vorbild diente die berühmte Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau. Das Innere der Kirche ist für einen Westeuropäer gewöhnungsbedürftig, denn es ist fast vollständig mit Mosaiken ausgeschmückt. Die Stelle der Ermordung des Zaren wird heute noch als "heiliger Ort" gekennzeichnet und darf unter keinen Umständen betreten werden.