Mein erstes Ziel war das finnische Kaufhaus Stockmanns am Wossanija-Platz etwa in der Mitte des Newskij-Prospektes. Ich war der Illusion erlegen, hier etwas für meinen Geldbeutel Erschwingliches zu erstehen. Weit gefehlt. Marken wie Bogner, Esprit, Calvin Klein etc. kosten auch in Rußland ihren Preis, und der ist mindestens so hoch wie in Deutschland. Auch die anschließende supermoderne Einkaufsgalerie war kein Schnäppchenmarkt.

Also entschloß ich mich, wieder mit der Metro zum südlich gelegenen Kusnetschnyi-Markt zu fahren. Schon gegenüber dem Metroausgang saßen zahlreiche ältere Frauen - "Babuschkas" - und boten auf provisorischen Ständen die Erzeugnisse ihrer Gärten und saisonal bedingt, selbstgesuchte Pilze aller Art an. Der eigentliche Markt ist überdacht, nicht besonders groß aber sehr gut sortiert. Hier gibt es alles, was man für die Herstellung eines frischen Gerichtes benötigt. Befremdlich ist der Zustand der (ehedem) gefliesten Verkaufstresen. Von den Fliesen fehlt sicherlich die Hälfte...

Einen Eindruck vom direkten Beieianderliegen von Verfall und Prosperität kann man erhalten, wenn man den Markt verläßt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich eine für Petersburg typische Häuserzeile im (neo-) klassizistischen Stil. Hat man die Erdgeschosse noch mehr oder weniger in Schuß gehalten, gleichen die Geschosse darüber denen in den Randbezirken Breslaus. Ein einziger Verfall. Und dahinter leuchten die gerade frisch vergoldeten Kuppeln der barocken Wladimirkirche...

Es ist wie zu Dostojewskijs Zeiten... das Haus, in dem der berühmte Literat seine letzten Lebensjahre bis zu seinem Tod 1881 verbrachte, liegt nur einige Meter vom Markt entfernt und ist heute ein Museum. Dankenswerterweise gibt es sehr informative Infotafeln auch auf Englisch.

Eine weitere Metrofahrt brachte mich zu einem Traum des Jugendstils: dem Witebsker Bahnhof. 1904 durch Zar Nikolaus II. eröffnet, hat der imposante Bau beide Weltkriege fast unbeschadet überstanden. Das Vorgängergebäude von 1837 war übrigens der älteste Bahnhof Rußlands. Er verband - wen wundert's - St. Petersburg mit Zarskoje Selo, auf das die Zarenfamilie flott zu ihrem Sommersitz gelangen konnte.

Vom Witebsker Bahnhof war mit der Metro schnell auf Empfehlung des Reiseführers der Sennaja-Platz erreicht. Ich fand den Platz enttäuschend, Verkaufsbuden bestimmen das Bild. Mehr als baufällige Gitter an den Häusern sollen davor bewahren, von abfallenden Bauteilen erschlagen zu werden. Abenteuerlich. Spannender ist, daß man hier den "normalen" Bewohner St. Petersburg beobachten kann, abseits des illusteren Newskij-Prospektes. Ich folgte der Sadowaja uliza auf der Suche nach dem berühmten Markt auf dem Apraksin Dwor. Zuerst sah ich nur eine erhöht liegende Passage in einem der typischen gelb-weißen Häuser. Wo war denn der Markt? Dann fand ich den Eingang - und war in einer anderen Welt. Was war das denn?

Meinem Führer nach bestand der einst größte Markt der Stadt schon zu Zeiten Katharinas der Großen, wurde 2008 dann aber wegen des heruntergekommenen Zustandes geschlossen und sollte komplett abgerissen werden. Teilweise erfolgt wohl der Abriß, 2014 gab es dann augenscheinlich schon wieder eine geringe Markttätigkeit. Davon konnte bei meinem Besuch nicht die Rede sein: zwischen den stehengebliebenen, aber abrißreifen Verkaufsgebäuden sind mehr oder weniger provisorische Verkaufsstände entstanden. Die Verkäufer sind, ich würde behaupten zu 100 %, aus den ehemals südlichen Republiken der Sowjetunion. Ein basarartiges Gewusel von Menschen, die alle Arten von Bekleidung, Lebensmitteln, Haushaltsgegenständen usw. zu Billigpreisen anbieten. Hier kauft also der der finanziell minderbemittelte St. Petersburger! Jetzt wußte ich auch, wohin der turkmenisch aussehende junge Mann wollte, den die Miltionärinnen so drastisch kontrolliert hatten. Ironischerweise liegt nämlich das Nobelkaufhaus Gostinyi Dwor, unter dessen Arkaden er unterwegs war, schräg vis-à-vis von dieser... Einrichtung.

Arm und reich in Sichtweite. St. Petersburg gehört, wie auch Moskau, zu den russischen Hochlohngebieten, aber der durchschnittliche Arbeitnehmer muß mit bestenfalls 1000 € im Monat auskommen (russischer Durchschnitt: 600 €, ganz zu schweigen von beispielsweise Rentnern). Wie soll das funktionieren bei Lebensmittelpreisen, die beispielsweise im großen Supermarkt Leto knapp unter denen in Deutschland liegen?

Leider neigte sich mein Urlaub unaufhörlich dem Ende zu. Bei deutlich wärmeren Temperaturen, ca. 18 Grad, fuhr ich mit der Metro auf die Petrograder Insel, um dort die Peter-und-Paul-Festung zu besuchen. Diese ist die Keimzelle St. Petersburgs, denn Peter der Große ließ hier ab 1703 eine strategisch günstige Festungsanlage an der Newa-Mündung errichten. Die Arbeit übernahm für ihn der Italiener Trezzini, der den Bau im Stil der Zeit mit mächtigen Bastionen konzipierte. Hauptattraktion der Festung ist die ebenfalls von Trezzini errichtete Peter-Paul-Kathedrale, deren 122 Meter hohe vergoldete Spitze in den zur Zeit meines Besuchs strahlendblauen Petersburger Himmel stach. Die barocke Kathedrale ist die Gruft aller Romanow-Zaren sowie anderer Angehöriger der verzweigten Familie. Im Hauptschiff liegen u.a. Peter der Große und Katharina II. In der Katharinenkapelle rechts vom Eingang wurde der letzte Zar, Nikolaus II., seine Familie und seine treuesten Diener bestattet. Bekanntermaßen hatten Bolschewiki alle 1918 in Jekaterinenburg ermordet. Erst nach dem Ende der Sowjetunion 1991 wurden die Gebeine geborgen und sieben Jahre später unter großem Pomp nach Petersburg überführt. In der angrenzenden Großfürstengruft finden seit 1992 auch wieder Romanow-Beisetzungen statt. Die letzte war 2010 der in Madrid verstorbenen Großfürstin Leonida Romanowa.

Ich nutzte das schöne Wetter und setzte mich an die Schiffsanlegestelle der Festung. Von hier aus hat man einen grandiosen Blick über die Newa und das geschäftige Treiben dort. Diverse Rennsegelschiffe trainierten augenscheinlich für ein Rennen, einige hartgesottene Menschen nutzten die Sonnenstrahlen zum Baden im Fluß. Der Wetterbericht sprach von Wassertemperaturen von 16 Grad...

Von der Festung ist es ein schöner Spaziergang entlang der Newa zu Peters Häuschen. Ursprünglich ein Blockhaus stand es dort, wo sich heute der Winterpalast befindet und diente Peter dem Großen von 1703-8 als Überwachungsstützpunkt für den Bau der Peter-und-Paul Festung sowie der "neuen Stadt aus dem Nichts". Er selbst ordnete den Umzug des kleinen Gebäudes 1711 zu seinem jetzigen Standort an und ließ es mit Ziegeln ummauern.

Ich folgte der Straße entlang der Newa und wurde an der nächsten Straßenecke Zeuge einer offenbar sehr wichtigen Veranstaltung. Zig Menschen, viele davon in Uniform, Funk und Fernsehen, versammelten sich vor dem bleu-weißen Eckgebäude, welches sich als Marineschule herausstellte. Eine Gruppe von Kindern in Marineuniformen, die jüngsten sicher nicht älter als 7 Jahre, marschierten um das Gebäude. Lamettabehängte Herren mit Portepee gaben Interviews. Was war denn hier los? Eine Abschlußveranstaltung?

Ich überquerte die Straße und stand vor dem Kreuzer Aurora. Dieses waffenstarrende Schiff spielte in der Weltgeschichte insofern eine Rolle, als von ihm in der Nacht vom 25.10.1917 ein Schuß abgegeben wurde, der zum Sturm auf die provisorische Regierung im Winterpalast blies. Der Zar hatte bereits abgedankt und die Bolschwiki mit Erfolg auf der Aurora agitiert. Deshalb sollte das Schiff aus dem Hafen entfernt werden - einem Befehl, dem sich die Besatzung in dieser denkwürdigen Nacht widersetzte... und die Geschichte nahm ihren bekannten Lauf.

Ich ging langsam zurück zur Metro, besuchte den einen oder anderen Hinterhof, und erreichte schließlich wieder die Moschee, die ich auf meinem Hinweg bereits von weitem gesehen hatte. Dieses riesige Gebäude von 1910 wurde im Stile der Moscheen der Seidenstraße erbaut. Heute, am Freitag, befanden sich vor dem Seiteneingang zahlreiche Personen, ziemlich offensichtlich Usbeken. Die Frauen mit diversen Kindern im Schlepptau bettelten aggressiv die Passanten und Autofahrer an. Ich suchte schnell das Weite und fuhr mit der Metro zurück in die Stadt zum Newskij Prospekt.

Die Parkanlage vor dem Puschkin-Theater lud zu einer Pause der ermüdeten Füße ein. In Ruhe konnte ich die gewaltige Statue Katharinas der Großen und ihrer Zeitgenossen betrachten. Auf der anderen Straßenseite imponierte der riesige Jugendstilbau der Familie Jelissejew, der einen Feinkosttempel beherbergt.

Nur wenig weiter führt die berühme Anitschkow-Brücke über die Fontanka. Die vier Statuen der Roßbändiger stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und heben sich vor dem rosafarbenen Belosselskij-Befoserskij-Palast ab. Der auf der anderen Seite der Fontanka liegende Anitschow-Palast ist der älteste der Stadt (1741) und wird gerade renoviert.

Fazit der Reise: St. Petersburg ist eine phantastische Destination und von Deutschland aus einfach zu erreichen. Lufthansa fliegt die Stadt zigmal täglich direkt an und auch Kreuzfahrtschiffe legen im Hafen an. Die Stadt hat, wen wundert es bei der Stadtgeschichte, einen eindeutig europäischen Charakter. Das Stadtbild Petersburgs ist geprägt vom Barock und (Neo-) Klassizismus in all seinen Spielarten, auch wenn Historismus und Jugendstil die Gebrauchsarchitektur an den Straßenzügen der Innenstadt mitbestimmen. Eindeutig westeuropäisch ist auch das Aussehen des weitaus überwiegenden Teils der Stadtbewohner.

Die von mir besuchten Attraktionen im Innenstadtbereich und natürlich auch die Zarenresidenzen sind in hervorragendem Zustand. Überall ist man auf die reichlich vorhandenen Touristen eingestellt und alle westlichen Firmen sind im Stadtbild vertreten. Schaut man allerdings hinter die Kulissen (oder die Innenhöfe der Häuser), sind noch die Hinterlassenschaften des Kommunismus gut sichtbar. Dazu gehört auch die unappetitliche Verpflichtung, benutztes Toilettenpapier in einen offenen (!) neben der Toilette befindlichen Eimer zu werfen, weil es keine leistungsfähige Kanalisation gibt. Auch vom Wasser aus der Wasserleitung läßt man besser die Finger und deckt sich mit Flaschenwasser ein. Das Straßenbild an sich ist aber erstaunlich sauber, sauberer als so manche deutsche Stadt mittlerweile, und es fehlen zum Glück die entsetzlichen Graffiti, die bei uns leider zum Alltagsbild gehören.

Ist man individuell unterwegs, ist es unerläßlich, zumindest kyrillisch lesen zu können. Kein Straßenschild oder Busbeschriftung etc. ist in lateinischer Schrift - im Gegensatz zu so mancher Reklame im Straßenbild (Ausnahme: die Metro). Die Sicherheitssituation in der Stadt habe ich - zumindest tagsüber - als völlig entspannt empfunden. Von Roma-Bettelkindern etc., vor denen im Reiseführer gewarnt wurde, habe ich nichts gesehen.


Literaturempfehlung:


Marcus X. Schmid: St. Petersburg. Erlangen 4. Aufl. 2015 (= MM City)