Vorbemerkung: Die Reise nach Kaliningrad bewegte mich in den darauffolgenden Jahren dazu, auch die beiden anderen Teile des alten Ostpreußen zu besuchen, den südlichen (polnischen) Teil und den allernördlichsten, heute litauischen Teil, das alte Memelland.
Im September 2017 reiste ich in zu einem eher ungewöhnlichen europäischen Ziel: in den Oblast Kaliningrad, also das russische Ostpreußen. Und das, ohne irgendwelche familiären Beziehungen zu der Region zu haben. Keiner meiner Vorfahren stammt aus dem nördlichen Ostpreußen oder war meines Wissens jemals in seinem Leben dort. Warum also diese Reise? Schon seit vielen Jahren habe ich ein Interesse an der Region, diesem ehedem östlichsten Teil des Deutschen Reiches. Sehr eingeprägt hatten sich mir die zahlreichen Dokumentationen zur Geschichte Ostpreußens im 2. Weltkrieg. Nicht nur, daß von hier aus der Überfall auf die Sowjetunion startete, auch betraten die Truppen der Roten Armee hier das erste Mal den Boden des Deutschen Reichs.
Weiter reizte mich die Tatsache, daß sich Geschichte doch wiederholt: war die Provinz Ostpreußen nach dem Versailler Vertrag eine Exklave außerhalb des Deutschen Reiches, so ist der Oblast Kaliningrad heute eine Exklave außerhalb der Russischen Föderation und umgeben von EU und NATO. Zudem liebe ich die Bauten der Backsteingotik und war von meiner Reise nach Danzig vor einigen Jahren von der dortigen Architektur begeistert. Im letzten Jahr trafen dann einige Faktoren zusammen: auf meiner Reise nach St. Petersburg überflog ich Klaipeda und die Kurische Nehrung bei strahlendem Wetter. Unter mir zogen sich die weißen Sandstrände der Ostseeküste wie breite Linien über Hunderte von Kilometern hin. Dann fiel mir zur gleichen Zeit antiquarisch ein Bildband in die Finger, in dem ein Journalist die Geschichte des Kaliningrad Oblast seit der Öffnung 1991 dokumentierte und ich machte im Internet Bekanntschaft mit einem Herrn aus meiner Region, der bereits zwei Mal mit Familie und Auto den Oblast besucht hatte. Er zerstreute alle meine Bedenken und so begann ich Anfang 2017 mit der Reiseplanung für den Spätsommer des gleichen Jahres.
Da nur eine Woche Zeit zur Verfügung stand, war natürlich eine Reise mit dem Auto ausgeschlossen. Leider gibt es keine direkten Flugverbindungen mehr in die Region und ich entschied mich zum Flug mit LOT über Warschau. Dies beinhaltete allerdings einen nervigen, 4,5stündigen Zwischenstop in der polnischen Hauptstadt. Insgesamt hätte ich bei dieser Reisezeit für lächerliche 900 Kilometer auch in Los Angeles sein können!
Der Anflug der kleinen und wenig gebuchten Turboprop von Warschau ins russische Territorium führte relativ niedrig über Pillau/ Baltisk und dann weiter nach Norden an die Nordküste des Samlandes. Ich traute meinen Augen nicht, als die Maschine in gemächlichem Tempo über Rauschen/Swetlogorsk, Neukuhren/Pionerkski und dann nach Cranz/Selenogradsk flog. Weiter ging es direkt entlang der Kurischen Nehrung bis zur litauischen Grenze. Dort bog der Pilot in einer großen Südostkurve ab und flog exakt entlang der Ostküste des Kurischen Haffs, was phantastische Aussichten auf das Haff und die Nehrung mit den prägnanten Dünenlandschaften ermöglichte. Wäre doch nur das Wetter besser gewesen! Der Anflug erinnerte mehr an eine Ausflugstour als einen Linienflug. Bei strömendem Regen landeten wir dann in Kaliningrad-Chrabrowo. Der Flughafen schien recht neu zu sein, denn er hatte noch nicht einmal eine Namensbezeichnung am Gebäude.
Die Koffer waren schnell ausgeladen und ich verabschiedete mich von meinen Mitreisenden: einer Delegation der Stadt Kiel, die auf dem Weg zu ihrer Partnerstadt Tilsit/Sowjetsk waren und einer katholischen Ordensschwester aus dem westlichen Münsterland, die ihre Mitschwestern in Kaliningrad besuchen wollte, die dort Missions- und Sozialarbeit leisten. Ziemlich flott passierte ich die Grenzkontrolle, wo es in erster Linie um die Kontrolle des leider immer noch vorgeschriebenen Visums ging. Bis dahin war alles noch sehr gut gelaufen. Außerhalb der Flughafenankunft erwartete mich eine Baustelle: keine Information, keine Bank (zum Glück hatte ich schon Rubel getauscht) und der Avis Autoschalter schlecht zu finden. Ich hatte nur zwei Personen vor mir, aber der Leihvorgang dauerte und dauerte. Endlich war ich an die Reihe. Da ich das Auto vorweg gebucht hatte, erwartete ich eine zügige Abfertigung. Von wegen! Restlos kurios wurde der Leihvorgang, als mir der Name meines Gegenübers auffiel: ein Spanier hier? Nein, er war Kubaner und freute sich außerordentlich, als ich - wohl etwas voreilig - kundtat, ich könne etwas Spanisch. Von nun an kommunizierte er als auch die Frau hinter dem Schalter mit ukrainisch-kubanischer Abstammung (!) nur noch in Spanisch, welche beide besser beherrschten als Englisch. Leider ist es mir genau umgekehrt und ich war mental sowieso auf Russisch eingestellt, welches ich seit Monaten gebüffelt hatte. Ein babylonisches Sprachgewirr! Die Frau brachte mich dann auch zum Leihwagen, der dann auf einmal nicht mehr ansprang. Im strömenden Regen und zu meinem Entsetzen nach der langen Bearbeitungszeit auch in Dunkelheit, konnte ich endlich den Parkplatz des Flughafens verlassen. Auf einer brandneuen Autobahn erreichte ich nach 35 Kilometern Swetlogorsk. Das letzte Stück ging dann über historisches Blaubasaltpflaster mitten durch den Ort und ich bekam einen ersten Einblick in die Gartenstadt. Ich erreichte mein vorab gebuchtes Apartment in einem alten deutschen Haus auf der ul. Podgornaya 20, welches sich als hervorragend und offenbar vor kurzem renoviert herausstellte. Der Urlaub konnte beginnen!
Das ursprüngliche Preußenland war das Stammland der baltischen Prußen. Durch Anordnungen des Kaisers und des Papstes zur Christianisierung und der damit beauftragten Eroberung des Landes durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert entstand der Deutschordensstaat, dessen Territorium auch "Preußen" genannt wurde.
Infolge des Zweiten Friedens zu Thorn verblieb 1466 nur der östliche Teil Preußens unter dem Orden (Prussia Orientalis), während das Fürstbistum Ermland (Warmia) und der abtrünnige westliche Teil (Prussia Occidentalis) autonom wurden und sich dem polnischen König unterstellten. Im Zuge der Reformation wurde der östliche Teil unter dem letzten Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen, Albrecht von Preußen, 1525 als Herzogtum Preußen zum ersten protestantischen Staatswesen in Europa unter Suzeränität des polnischen Königs. Durch die dynastische Vereinigung mit dem Kurfürstentum Brandenburg 1618 wurde es auch Brandenburgisches Preußen genannt. Im Vertrag von Wehlau übergab 1657 der König von Polen seine Suzeränitätsrechte über das Herzogtum Preußen an den Kurfürsten von Brandenburg und seine Nachfahren, die dadurch souveräne Herzöge in Preußen wurden. In der Hauptstadt Königsberg krönte sich 1701 Kurfürst Friedrich III. als Friedrich I. zum König in Preußen. Der Name "Preußen" ging im Verlauf des 18. Jahrhunderts auf den gesamten Staat der Hohenzollern in ihrer Eigenschaft als Könige von Preußen und Kurfürsten von Brandenburg innerhalb und außerhalb des Heiligen Römischen Reichs über.
Nach der Ersten Teilung Polens verfügte König Friedrich II. von Preußen 1772, daß die bisherige Provinz Preußen, erweitert um das Ermland, nach der Vereinigung aller Lande Preußen den vorherigen lateinisch Namen Prussia Orientalis (Deutsch Ostpreußen) erhalten solle und das annektierte Polnisch-Preußen den Namen Westpreußen. Beide Provinzen bildeten mit dem Netzedistrikt in der Preußischen Monarchie zwischen 1772 und 1793 das Königreich Preußen.
In der Provinz Preußen, zu der Ostpreußen von 1829 bis 1878 gehörte, lagen nach der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und der Gründung des Deutschen Reichs 1871 sowohl dessen nördlichste als auch östlichste Punkte. Nach dem Friedensvertrag von Versailles 1919, der den Kriegszustand des Ersten Weltkriegs beendete, war Ostpreußen zwischen 1920 und 1939 durch den "Polnischen Korridor" vom übrigen Deutschland territorial abgetrennt.
Durch das Potsdamer Abkommen kam das nördliche Ostpreußen einschließlich der Provinzhauptstadt Königsberg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 unter vorläufige Verwaltung der Sowjetunion und das südliche Ostpreußen unter polnische Verwaltung.
Rauschen wurde 1258 als Rusemoter im Urkundenbuch des Bistums Ermland urkundlich erwähnt. Der Name ist prußisch und beschreibt die vom Wasser ausgehöhlte Küstenform. Die Siedlung Rusemoter hat vermutlich dort gelegen, wo sich heute das Südufer des Mühlenteiches erstreckt. Der Mühlenteich selbst wurde erst später unter der Herrschaft des Deutschen Ordens angelegt. Diese stauten den Katzbach, um am Nordostufer des so entstandenen Mühlteiches eine Wassermühle zu betreiben. Diese Mühle war die größte des Samlandes. Von der Mühle ist nichts mehr erhalten, aber es steht noch eine 400jährige Linde am Ostufer des Sees. An seinem Rand entstand Alt-Rauschen.
Der Aufstieg Rauschens als renommierter Badeort begann mit dem Bau der Samlandbahn. Zunächst entstand 1900 der Bahnhof Rauschen-Ort. Sechs Jahre später wurde auch der direkt am Meer gelegene Ortsteil Rauschen-Düne mit einem eigenen Bahnhof angebunden. Mit einer Seilbahn konnten die Badegäste bereits damals direkt vom Bahnhof bis hinunter an den Strand gelangen.
Bis 1945 war Rauschen ein bekanntes Seebad und Naherholungsgebiet für die Bewohner der Stadt Königsberg. Im Krieg wurde Rauschen im Vergleich zu anderen Orten in Ostpreußen nur sehr wenig zerstört, weshalb hier bis heute viel historische Bausubstanz aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert erhalten ist. Nach 1945 wurden die noch nicht geflohenen deutschen Bewohner vertrieben und vor allem Russen und Weißrussen angesiedelt. Im Juni 1947 wurde Rauschen in Swetlogorsk umbenannt und gleichzeitig zur Stadt erklärt.
Bei für Anfang September extrem ungemütlichem Wetter mit strömendem Regen und nur 13 Grad machte ich mich am Tag nach meiner Ankunft auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Meine Unterkunft lag extrem günstig mitten im ehemaligen Ortsteil Rauschen-Düne, dem Kurviertel der Stadt. Der Ort ist historisch als Gartenstadt angelegt und verfügt nicht über ein eigentliches Zentrum. Dieses wird ersetzt durch die ul. Oktjabrskaja und die ul. Lenina, die bei schönem Wetter sicher attraktive Flaniermeilen sind.
Kaum war ich aus meiner Unterkunft getreten, befand ich mich in einer anderen Welt: ein nicht beschreibbares Gemisch aus kaiserzeitlicher (Bäder-)Architektur mit russischen Einflüssen. Ein großer Teil der historischen Häuser waren noch im Originalzustand und mehr oder weniger gut erhalten. Einige Häuser standen leer und zum Verkauf. Andere Gebäude waren mehr oder weniger gelungen renoviert und mit russischen Akzenten versehen. Einige Häuser waren neu. Die Straßen waren durchgehend gut und mit Asphalt und/oder Verbundpflaster versehen.
Nach nur wenigen Minuten hatte ich "das" Wahrzeichen der Stadt erreicht: das Warmbad, im Jugendstil erbaut mit einem prägnanten 25 m hohen Turm. Leider ist das Gebäude nicht zugänglich, denn es beheimatet ein Militärsanatorium. In unmittelbarer Nähe befindet sich der Stadtpark (früher Lärchenpark), darin die einstige katholische Kirche, heute Orgelsaal. Vis-à-vis des Gebäudes finden sich drei wunderschöne Gebäude noch aus Kaisers Zeiten.
Südöstlich des Parks stößt man auf die ehemals evangelische Kirche aus dem Jahre 1907, in der seit 1991 orthodoxe Gottesdienste abgehalten werden. Die Kirche ist in einem erstklassigen Zustand und einzig das orthodoxe Kreuz auf dem Dach erinnern an die geänderten Zeiten.
Diese werden dem Besucher allerdings zwischen ul. Lenina und Steilküste unmißverständlich vor Augen geführt: dort befindet sich der riesige Komplex Jantar Hall (Bernstein Halle) - ein postmodernes Veranstaltungszentrum. Nur zwei weitere Gehminuten passiert man dann den "Stadtplatz Rauschen" mit alter und pseudo-alter Bebauung und einigen Geschäften. Wendet man sich nach Norden, erreicht man einige neue Eigentumswohnungskomplexe direkt über der Küste und der verbauten Treppe zur ehemaligen Venusschlucht. Bei den vorherrschenden Wetterverhältnissen war der Abstieg zum Stand schon eine Herausforderung! Unten angekommen trifft man auf die größte Sonnenuhr der Region von 1972 im Stil der Zeit. Allerdings hat man von hier aus auch einen Blick auf das wahre Problem von Swetlogorsk: den Küstenschutz. Eine gewaltige Sturmflut spülte im Jahre 2012 bis auf wenige Reste den gesamten Strand hinweg und griff an diversen Stellen auch die Steilküste an. Nördlich der Sonnenuhr konnte ich eine Baustelle beobachten, wo mit großem technischem Aufwand etwa 30 Meter von der Küste Spundwände in das Meer getrieben wurden. Im gesamten ehemaligen Strandbereich hat man versucht, mit Drahtkäfigen Steine gegen die stürmische See zu befestigen. Bei den Wetterverhältnissen meines Besuchs konnte ich mir lebhaft die Verhältnisse vor einigen Jahren vorstellen. Westlich des Stadtbereiches war bereits ein Teil der Steilküste abgerutscht, praktisch ist bis auf vielleicht 200 Meter kein Sandstrand mehr in Swetlogorsk vorhanden. Akut gefährdet ist auch das 5-Sterne Hotel Grand Palace direkt zwischen Strand und Steilküste. Dazwischen liegt die Strandpromenade, an deren westlichem Ende eine Seilbahn Besucher wieder hoch zur ul. Lenina und auch den Bahnhof (ehemals Rauschen Düne) bringt. Hier finden sich zum Verkauf stehende, riesige Villen aus Kaisers Zeiten und vis-à-vis vom Bahnhof das Gegenstück aus heutiger Zeit: die Datscha des regionalen Lukoil Vertreters Alekperow - eine typische, üppige russische Neureichenanlage.
Sehenswert ist auch der Thomas Mann Stein am oberen Anfang des Serpentinenweges zum Strand. Nach Rauschen kamen viele Prominente: Käthe Kollwitz, Hermann Sundermann, Heinz Rühmann und eben auch Thomas Mann, der hier 1929 urlaubte und arbeitete. 2001 enthüllte Günter Grass den Gedenkstein, der passend flankiert ist von diversen Gebäuden in originaler Bäderarchitektur.
An nächsten Tag, einem Sonntag, hatte es endlich aufgehört zu regnen und war mit 18 Grad fast warm. Ich machte mich auf den Weg nach Pionerski, fuhr mich aber in einer Swetlogorsk umgebenden Datschensiedlung fest. Obwohl das Navi frisch aktualisiert war, gab es kein Durchkommen im Straßengewirr. Also mußte ich doch den großen Umweg über die neue Schnellstraße nehmen.
Pionerski, das ehemalige Neukuhren, stand immer im Schatten der beiden Nachbarn Rauschen und Cranz und war eher das Seebad der Mittelklasse. Ab 1837 war es von einem Fischerdorf zum Badeort aufgestiegen mit Kurhaus und Villenviertel. Von allem sind heute nur noch Fragmente erhalten. Dafür ist der Strand noch so wunderschön feinsandig und breit, wie er vor der Sturmflut von 2012 auch in Swetlogorsk war. Nahe des Hafens, am Westende der Stadt, gab es sogar einen behindertengerechten Strandzugang. Ohne mir etwas zu denken, ging ich von dort bis an das Hafenbecken. Hier bereiteten Kinder ihre Optimistensegelboote zum Start vor. Der nette Segellehrer sprach mich auf russisch an, als ich ihm in meinem Stoppelrussisch klar machte, daß ich nichts verstand, switchte er auf Englisch um. Entschuldigend sagte er, hier sei Sperrzone für Ausländer. Leider gäbe es so was in Rußland. Dann erzählte er mir die Geschichte des Hafens. Die paar alten Schiffe seien nur noch ein müder Abklatsch dessen, was es zu sowjetischen Zeiten geben hätte: eine riesige Trawlerflotte hätte es bis zu den "wild nineties" gegeben. Quasi nichts mehr sei davon übrig. Auch ich hatte gelesen, daß sich die Stadt notgedrungen wieder auf ihre touristische Geschichte besinnt. Vom Strand aus hatte ich bereits die kleine Strandpromenade gesehen. Ich kaufte noch im modernen Supermarkt Viktoria am Stadtrand ein und machte mich weiter auf den Weg nach Romanowo.