Anfang September 2015 nutzte ich einen Urlaub zu einer erneuten Reise nach Schlesien. Ziel der Reise war unter anderem wieder meine Familienforschung. Genau vor 25 Jahren, 1990, war ich das erste Mal in Schlesien auf den Spuren meiner Vorfahren unterwegs. Einige Jahre später, 1999, verbrachte ich einen Urlaub auf der südlichen, tschechisch-böhmischen Seite des Riesengebirges, da meine Familie teilweise auch von dort stammt.
Weil die Flugverbindung mit WizzAir nach Breslau (Wrocław) führte, stand selbstverständlich auch eine Besichtigung der Stadt auf dem Programm. Bei dem Kurzbesuch im Diözesanarchiv 1999 war dafür nicht genügend Zeit geblieben, weil die An- und Abreise aus Tschechien (zu) viele Stunden in Anspruch genommen hatte.
Nach nur einstündigem Flug erreichte ich an einem glühend-heißen Nachmittag bei 35 Grad den 2012 eröffneten Flughafen von Breslau. Nach weiteren 25 Minuten war meine gebuchte Unterkunft, das Akira, nördlich der Altstadt im Viertel Nadodrze (früher: Oder Vorstadt) gelegen, erreicht. Das neu eröffnete Hostel ist in einem gründerzeitlichen, schön renovierten Eckgebäude untergebracht. Einzig störend ist der Anblick auf das nahe gelegene Energiekraftwerk.
Die Gegend um das Hostel stellte sich am nächsten Tag als sehr heterogen heraus: eine geschlossene gründerzeitliche Bebauung in unterschiedlichen Erhaltungsstufen. Die Bandbreite reichte von ausgehöhlten Ruinen über seit 70 Jahren nicht renovierte Gebäude mit Einschußlöchern und deutschen Inschriften bis hin zu wunderschön und aufwendig restaurierten Objekten. Den Einfluß des EU-Regionalfonds konnte ich bereits in unmittelbarer Hotelnähe ablesen: der ehemalige Schießwerderplatz (Skwer Sybiraków) war aus eben diesen Mitteln wiederhergestellt worden.
Zu Fuß machte ich mich auf der ul. Pomorska (ehem. Rosenthaler Str.) auf den Weg zur Altstadt. Wunderschön war der Blick von der in der Oder liegenden Sandinsel auf die Schauseite der Universität und das Ursulinenkloster. Nach einiger Zeit hatte ich die Dominsel, die Keimzelle der Stadt, erreicht. Schon von weitem konnte man die Johannes Kathedrale erkennen. Die Domstraße (ul. Katedralna) und die anliegenden Gebäude sind aufwendig restauriert und lassen den Besucher in eine andere Welt und Zeit abtauchen. Vor 16 Jahren hatte ich das Erzdiözesanarchiv besucht und war auf die Aussichtsplattform der Kathedrale gefahren. Das Archiv hatte bei meinem jetzigen Besuch, einem Wochenende, geschlossen und im Dom fand ein Gottesdienst für den in der Umgebung lebenden Klerus statt, so daß ich das Innere der Kathedrale nur von weitem anschauen konnte.
Nach ausgiebiger Besichtigung der Gegend ging ich über die Dombrücke (most Tumski) zur Markthalle (Hala Targowa) von 1908. Diese wirkt von außen mittelalterlich, imponiert von innen aber durch eine in der Zeit revolutionäre Betonkonstruktion. Ich nutzte die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Marktbummel. Weiter ging es vorbei am Ursulinenkloster zum Ossolineum. In das Gebäude wurden nach 1945 die Buchbestände des gleichnamigen Lemberger Instituts überführt. In Sichtweite befindet sich die Namen-Jesuskirche (Kościół Imienia Jezus) mit pompös-barocker Ausstattung. Direkt daneben liegt die Universität, deren Barockfassade ich schon von der Oder aus gesehen hatte.
Immer mehr näherte ich mich dem Herzen der Altstadt. Vorbei ging es an den historischen Schlachtbänken (Stare Jatki), in denen nun Galerien und Geschäfte untergebracht sind.
Schnell war nun auch der Große Ring (Rynek) erreicht. Steht in der überwiegenden Zahl der Städte in Westdeutschland eine Kirche im Stadtzentrum, so ist der "Ring" genannte Marktplatz mit dem Rathaus ein Kennzeichen der sog. Gründungsstädte, die durch die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter entstanden. Das Rathaus befindet sich in aller Regel inmitten des Rings oder integriert in die Reihe der ihn umgebenden Häuser des Patriziats. in Breslau befindet sich sogar das alte als auch das neue Rathaus in der Platzmitte. Das gesamte Ensemble mit dem angrenzenden Salzmarkt (Plac Solny) bildet die gute Stube der Stadt und ist entsprechend vom Tourismus frequentiert.
Vom Ring erreicht man nach etwa 10 Minuten die Synagoge zum Weißen Storch (Synagoga pod Białym Bocianem), die als einzige im gesamten Deutschen Reich die sogenannte Reichskristallnacht 1938 unbeschadet überstand. Es war befürchtet worden, daß Flammen auf Nachbargebäude überschlagen könnten. Unweit des von Langhans entworfenen klassizistischen Baus befindet sich das monumentale Gebäude der neuen Börse. Diese ist leider - im Gegensatz zur alten Börse am Salzmarkt - unrestauriert. Auffällig ist das riesige, fast vis-à-vis liegende Backsteingebäude, welches sowohl in deutscher als auch in polnischer Zeit das Gericht beherbergt.
Ich besichtigte dann das nicht weit entfernt liegende historische Museum im Königsschloß (Pałac Królewski) . Das bestens renovierte Gebäude, nach 1750 die Breslauer Residenz der preußischen Hohenzollern, ist unbedingt einen Besuch wert. Entlang der ul. Kazimierza Wielkiego (ehem. Goldene Radegasse) war nach kurzer Wegstrecke die Świdnicka oder Schweidnitzer Straße erreicht: in alter als auch in neuer Zeit Breslaus wichtigste Einkaufsmeile. Sehenswert sind hier die Oper, das gegenüberliegende Hotel Monopol und das 2009 eröffnete Kaufhaus Renoma. Letzteres wurde 1930 im Stil der neuen Sachlichkeit erbaut und beherbergte seinerzeit Wertheim. Ein Jahr vorher entstand in der Nähe der Schweidnitzer Straße das "gläserne Kaufhaus", ein architektonisches Highlight seiner Zeit (damals Kaufhaus Rudof Petersdorff, heute Kaufhaus Kamelot).
Am letzten Tag meines Breslauaufenthaltes besuchte ich im sogenannten Arsenal, einem Backsteingebäude aus dem 15. Jahrhundert, das Museum für Archäologie und das Museum für Militaria.
Mittags checkte ich bei immer noch 35 Grad aus den Hostel aus, fuhr zum Flughafen und übernahm dort meinen Leihwagen. Los ging es in Richtung Südwesten zu meinem nächsten, 100 km entfernten Ziel Schömberg (Chełmsko Śląskie). Da die bekannte Stadt Schweidnitz (Świdnica) direkt auf halben Wege an der Route lag, nutzte ich die Gelegenheit zu einem Zwischenstop. Die Häuser rund um den Ring und das Rathaus waren, wie auch schon in Breslau, sehr schön restauriert. Bei dem traumhaft schönen Wetter waren am heutigen Sonntag die Straßencafés bis auf den letzten Platz ausgebucht. Es herrschte eine fast mediterrane Atmosphäre.
Ein Stück vom Ring entfernt befindet sich die imposante katholische Pfarrkirche St. Stanislaus und Wenzel (Sw. Stanisława i sw. Wacława) von 1350, die glücklicherweise geöffnet war. Zwischen Ring und Kirche sind weite Teile der Gebäude allerdings noch in einem nicht- restaurierten Zustand.
Bald nach dem Verlassen Schweidnitz' sah ich in der Ferne die ersten Ausläufer des Riesengebirges. Die ebenfalls große Stadt Waldenburg (Wałbrzych) ließ ich zu rechter Hand liegen. Der Autoverleiher hatte mich noch augenzwinkernd gefragt, ob ich auch in die Region wegen des angeblich dort gefundenen Nazi-Goldzuges gekommen sei.
Die Straße verlief immer weiter nach Süden, um dann ein ganzes Stück inmitten der Berge parallel zur polnisch - tschechischen (ehemals schlesisch - böhmischen) Grenze zu verlaufen. Irgendwann erreichte ich auf einer Anhöhe einen Ausguck: der Ausblick über das Schömberger Tal war traumhaft, in der Ferne konnte man sogar den prägnanten Kirchturm von Schömberg erkennen. Statt direkt zu meiner gebuchten Unterkunft zu fahren, konnte ich es nicht lassen, direkt zum Friedhof von Schömberg zu fahren, denn nach meinen letzten Recherchen war klar, daß viele meiner Ullrich-Vorfahren aus der Stadt stammen und auch dort begraben liegen.
Der Friedhof hinter der Kirche war schnell gefunden, er war erstaunlich groß und zweigeteilt: rechts vom Mittelweg befanden sich neu(ere) polnische Gräber. Links und entlang des Außenzauns deutsche, oder besser gesagt, was davon übrig war. Entlang des Außenzauns hatten sich augenscheinlich Familiengrüfte befunden. Die rostigen Einzäunungen waren noch vorhanden, die Grabmäler aber größtenteils zerstört. Letzteres traf auch auf das Gros der übrigen Grabmäler zu. Bis auf wenige Ausnahmen waren nur noch die Sockel zu erkennen. Da die rechte Seite nunmehr mit Gräbern belegt ist, hat man vor zirka einem Jahr begonnen, nun auch Beerdigungen auf der linken Seite vorzunehmen. Auffällig war ein neues Grab inmitten des zerstörten linken, deutschen Teils. Der Name der Verstorbenen gab Aufschluß über den Grund: eine augenscheinlich in Schömberg nach 1945 verbliebene deutsche junge Frau hatte einen Polen geheiratet. Beigesetzt hatte man sie augenscheinlich in ihrem deutschen Familiengrab. Die Geschichte erinnerte mich sofort an die deutschstämmige Schlesierin, die wir 1990 im benachbarten Liebau (Lubawka) kennen gelernt hatten und die von ihrem Vater mit einem Polen verheiratet worden war, damit die Familie nicht aus der Heimat vertrieben würde. Da die exzellent renovierte Kirche samt Kirchhof verschlossen war, fuhr ich zu meiner nächsten Unterkunft, dem außerhalb der Stadt romantisch gelegenen Hotel Zadrna, einem ehemaligen deutschen Landschulheim.
Den nächsten Tag nutzte ich zu einer ausgiebigen Erkundung Schömbergs. Die im 13. Jahrhundert gegründete Stadt gehörte erst zu Böhmen und wurde samt der umliegenden Dörfer 1343 an das Kloster Grüssau verkauft. Eine überregionale Bekanntheit erlangte sie 1793, als es hier wie auch in Landeshut, Liebau und Bolkenhain und massiven Weberunruhen kam. Bereits 1870 wurde der Aufstand wissenschaftlich untersucht.
Schömberg gehört zu den am besten erhaltenen Ensembles von Baudenkmälern in Niederschlesien. Der auch hier vorhandene Ring wird gesäumt von renovierten und unrenovierten Häusern mit den bekannten Laubengängen. Landesweit einzigartig sind aber die vorhandenen Bauten aus vorindustriell-gewerblicher Zeit: die sogenannten "Weberhäuser der Zwölf Apostel" und die "Häuser der Sieben Brüder".
Bemerkenswert ist auch, daß die historische Bausubstanz Schömbergs im Zweiten Weltkrieg praktisch keinerlei Schaden erlitt.
Dies änderte sich allerdings in den Folgejahrzehnten. Wie überall in den ehemaligen deutschen Ostgebieten kam es zu Zerstörungen und Vernachlässigung.
Zu den Beweggründen und der Einstellung der polnischen Bevölkerung zum deutschen Kulturerbe wurde 2004 am Beispiel Schömbergs eine hochinteressante Untersuchung durchgeführt.
Die Autorin kommt unter anderem zu dem Schluß, daß Schömberg Glück im Unglück hatte. Frei nach dem Motto "Poverty is the best conservator" überstanden viele Gebäude die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg.
Schömberg ist mit gut 2000 Einwohnern das größte Dorf im Bereich Landeshut. Obwohl der Ort 1945 das Stadtrecht verlor, kann er aufgrund seiner Geschichte und Struktur weiterhin als kleiner Staat betrachtet werden.
Mittlerweile gibt es in Schömberg, wie auch in ganz Schlesien, Bestrebungen, die sich mit dem deutschen Erbe positiv auseinander zu setzen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Aktivitäten eines Ladeninhabers in den alten Weberhäusern. Intensiv hat er sich mit der Vorkriegsgeschichte des Ortes beschäftigt und ein kleines Archiv/Museum angelegt. Daß er unter der Ladentheke Grundbuchakten aus dem 18. Jahrhundert liegen hat, erschüttert allerdings jeden Historiker. Seine Erläuterung: 1978 wurde das städtische Archiv geräumt. Kurzerhand warf man alle Akten auf einen Lkw. Ein Teil der Akten fiel herunter oder wurde von der Bevölkerung weggenommen. Bände hätten später in Gärten herumgelegen, sie seien zum Abdichten von Fenstern und Anzünden der Herde verwendet worden.
Auf alle Fälle hat der Mann nunmehr eine Initiative gegründet, um die letzten deutschen Grabsteine vor der Zerstörung zu retten. Eine Sammlung findet sich im abschließbaren Innenbereich des Kirchhofs. Erkannt hat der Mann auch den touristischen Wert der Gebäudesubstanz des Ortes. Ausführlich beklagte er sich aber mir gegenüber über Mißmanagement, Nepotismus und Kleptokratie. Wenig förderlich für Schömberg war auch die Eingemeindung zur nahe gelegenen Stadt Liebau. Wie nicht nur er beklagte sondern ich auch selbst sehen konnte, bedient sich die Liebauer Verwaltung nun als erstes aus den sprudelnden Mitteln des EU-Regionalfonds - auf Kosten des kleineren Schömberg.
Nach der ausgiebigen Besichtigung Schömbergs machte ich mich auf den Weg zum nahe gelegenen Blasdorf (Błażejów). Aus diesem Dörfchen stammt mein 1819 dort geborener direkter Vorfahre Carl Bernard Benedict Ullrich und einige seiner Geschwister. Er war augenscheinlich ins benachbarte Liebau gegangen und hatte vermutlich dort seine spätere Ehefrau Maria Anna Tatsch/Taschke kennengelernt (Heirat 1843). Diese stammte aus dem unmittelbar hinter der preußisch-schlesischen Grenze bei Liebau gelegenen österreichisch-bömischen Bernsdorf (Bernatice).
1747 lebten in Blasdorf 33 Bauern und 79 Häusler, darunter 14 Handwerker. Nach der Säkularisierung des Klosterguts wurde Blasdorf 1810 königliches Eigentum. Nach der Neugliederung Preußens 1815 gehörte Blasdorf zur Provinz Schlesien und war ab 1816 dem Landkreis Landeshut eingegliedert, mit dem es bis 1945 verbunden blieb. Es bildete eine eigene Landgemeinde und gehörte seit 1874 zum Amtsbezirk Voigsdorf, der 1931 in Amtsbezirk Erlendorf umbenannt wurde. 1840 bestand Blasdorf aus 104 Gebäuden, darunter eine Schule, sowie je eine Stärke- und Walkmühle.
Blasdorf ist ein typisches Straßendorf und zieht sich bis zu einer Hügelkette, die heute die Grenze zwischen Polen und Tschechien und früher zwischen Schlesien und Böhmen darstellte.
Von Blasdorf aus befuhr ich die Straße Richtung Norden nach Grüssau (Krzeszów). Zwischenziel waren die Ansiedlungen Kratzbach und Leuthmannsdorf (die später zur Gemeinde Erlendorf [Olszyny] zusammengeschlossen wurden). Von hier stammten die ältesten Geschwister Carl Bernard Benedict Ullrichs. Seine Eltern Hans George Ullrich und Barbara Kirsch müssen also zwischen 1809 und 1813 dort gesiedelt haben. Meine Forschungen haben bislang ergeben, daß möglicherweise Familie Kirsch aus Kratzbach stammte. Anschließend erfolgt der Umzug nach Blasdorf, der ab 1816 nachgewiesen ist. In Blasdorf verstarb 1833 auch Hans George und wurde auf dem Schömberger Friedhof beerdigt.
Auffällig an der Straße nach Grüssau waren die in regelmäßigen Abständen vorhandenen Pilgerstationen, handelte es sich doch um den traditionsreichen Pilgerweg zum bekannten Kloster Grüssau (Klasztor w Krzeszowie). Schömberg und Grüssau verbindet eine lange Geschichte. So gehörte seit 1343 Schömberg mit sechs Dörfern zum Grundbesitz des Klosters. Bei Temperaturen weit über 30° erreichte ich die schon von weitem gut sichtbare ehemalige Zisterzienserabtei. Das bestens renovierte Barockensemble ist einfach überwältigend!