Lindenau

Ich fuhr weiter auf den Spuren meiner Vorfahren durch das Straßendorf Lindenau (Lipienica). Der ebenfalls Hans Georg heißende Vater von Hans Georg Ullrich lebte 1801 bei der Hochzeit seines Sohnes in Schömberg in Lindenau. Seinen Geburtsort konnte ich bislang noch nicht herausfinden.
Leider gab es in Lindenau nur noch ganz vereinzelt alte Häuser zu sehen. Die Straße schlängelt sich einige Kilometer durch das Grüssauer Tal und durchquert dann die bewaldeten Hügel des Ullersdorfer Forstes (Ulanowice).

Liebau

Auf der anderen Seite der Hügelkette hatte ich mein Ziel Liebau (Lubawka) erreicht. Das war mein nunmehr dritter Besuch in dieser Stadt. Erstes Ziel war der Friedhof, dessen Anblick mich 1990 erschüttert hatte. Bis auf einige wenige, in die äußere Friedhofsmauer integrierte Gruften zeugte nichts mehr von der deutschen Vergangenheit dieses Begräbnisfeldes. Waren die Gruften 1990 "nur" aufgebrochen, so hatte man sie bei meinem nächsten Besuch 1999 als Müllabladestelle benutzt. Bei meinem jetzigen Besuch hatte man wenigstens die Grabplatten wieder über die Gruften geschoben und das Gras geschnitten. Die Friedhofsmauer mit den letzten verbliebenen Gruft-resten ist aber akut einsturzgefährdet. Sehr nachdenklich verließ ich den Ort und fuhr in das Stadtzentrum.
Auffällig neben mehr renovierten Häusern als 1999 waren die neu asphaltierten Straßen und die mit Verbundsteinen gepflasterten Bürgersteige. Das Haus gegenüber der katholischen Kirche, in welchem mein Großvater bei seinem Onkel Vincenz Schediwy eine Lehre absolviert hatte, stand immer noch. Erstaunlicherweise nur noch als Ruine erhalten hingegen ist das repräsentative klassizistische Bahnhofsgebäude nach einem Brand vor einigen Jahren.

Jungbuch

Da Liebau in unmittelbarer Nähe zur tschechischen Grenze liegt, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, nach Tschechien zum Geburtsort meines Großvaters Jungbuch (Mladé Buky) zu fahren. Mit dem in Polen gemieteten Leihwagen war ein Grenzübertritt an und für sich verboten. Ich wagte es trotzdem in der Hoffnung, daß auf der nur 23 Kilometer langen Strecke schon nichts passieren würde.... Über Schatzlar (Zacler) ging es auf einer romantischen Strecke durch das Riesengebirge. Nach einer halben Stunde war Jungbuch erreicht, welches sich in einem sehr guten Zustand präsentierte. Schon 1999 war mir aufgefallen, daß Häuser und Infrastruktur in Tschechien gepflegter und besser waren als in Polen. Selbst in dem kleinen Ort Jungbuch existieren mehrere Skilifte sowie ein Ski- und Golfresort, die Einkommen generieren. Da mir nicht viel Zeit verblieb, schloß ich meinen Besuch mit einer Besichtigung der hoch über dem Ort liegenden Kirche, welche leider verschlossen war, ab.

Am nächsten Tag verließ ich Schömberg in Richtung Hirschberg (Jelenia Góra). Eher zufällig stieß ich am Weg nach Liebau in Ullersdorf auf die versteckt liegende Barockkirche Vierzehnheiligen. Dieses Kleinod wurde 1685–1686 als Stiftung des Grüssauer Abts Bernardus Rosa vom Maurermeister Martin Urban errichtet und eine Renovierung erfolgte mit Mitteln aus dem EU-Regionalfonds.

Schmiedeberg

Meinen nächsten Stop absolvierte ich in Schmiedeberg (Kowary), dem Zentrum der Eisenindustrie der Region bereits im Mittelalter. Obligatorisch war natürlich ein Besuch auf dem Friedhof. Einige deutsche Grabsteine hatte man vor die Friedhofsmauer gelegt und das Grab des deutschen Veterinärs samt Gattin sind die einzigen Zeugnisse der deutschen Vergangenheit hier. Begraben auf dem Friedhof ist der Bruder meines Großvaters Reinhold Ullrich. Dieser war zusammen mit meinem Großvater und einem weiteren Bruder (Alfred) von Schlesien aus Anfang der 1920er Jahre nach Westdeutschland gegangen. Ausgelöst durch die Ruhrbesetzung gingen Alfred und Reinhold zurück nach Schlesien, wo letzterer 1942 verstarb.
Die Hauptstraße Schmiedebergs mit den wunderschönen Häusern läßt die Bedeutung der Stadt auch heute noch erahnen.

Buschvorwerk

Buschvorwerk (Krzaczyna) liegt in unmittelbarer Nähe zu Schmiedeberg. Es ist der Geburtsort meiner Urgroßmutter Anna Auguste Bertha Linke (geb. 1862) und deren Eltern Johann Heinrich Linke und Ernestine Wilhelmine Mathilde Exner.

Krummhübel


Von der kleinen Ansiedlung aus machte ich mich auf den Weg zu dem wohl bekanntesten Ort im Riesengebirge: Krummhübel (Karpacz). Das Städtchen war bereits in deutscher als auch polnischer Zeit Zentrum des Fremdenverkehrs im Riesengebirge und, durch einen Sessellift, Ausgangspunkt zur Besteigung der 1602 m hohen Schneekoppe. Schon 1990 war der Ort, im Gegensatz zu den ungepflegten Städten der Umgebung, in einem viel besseren Zustand. Auch am Tag meines Besuches, selbst hier in den Bergen herrschten über 30°, war die Stadt herausgeputzt und voller Touristen. Glücklicherweise hatte man den abenteuerlich-maroden Sessellift durch ein modernes Modell ersetzt. Einen Besuch wert ist auch das Reisengebirgsmuseum, untergebracht in einem traditionellen Holzhaus.

Natürlich durfte auch ein Besuch der mittelalterlichen norwegischen Stabholzkirche Wang nicht fehlen. Diese hatte 1841 der preußische König Friedrich Wilhelm IV. erworben und in Brückenberg (Karpacz Górny) wieder aufgebaut. Die Kirche ist DIE Attraktion der gesamten Region, buslandungsweise werden Besucher herangekarrt. Glücklich können sich die Besitzer von angrenzenden Grundstücken schätzen, die diese, in Ermangelung von Alternativen, höchst aggressiv und zu völlig überzogenen Preisen als Parkplätze vermieten.

Giersdorf

Über Baberhäuser (Borowice), wo wir 1990 gewohnt hatten, fuhr ich weiter nach Giersdorf (Podgórzyn), in dem meine Urgroßeltern Gustav Hermann Schmidt und Anna Auguste Bertha Linke 1885 geheiratet hatten. Ihrem Ehemann zuliebe war Anna zum Protestantismus konvertiert und somit fand die Hochzeit auch in einem ganz besonderen Gebäude statt.
Merkwürdigerweise findet man im Internet wenig Hinweise auf dieses wohl prägnanteste Gebäude der Stadt: die ehemalige evangelische Bethaus-Kirche, erbaut 1780, jetzt katholische Kirche Hl. Maria. Dem bekannten Forscher Ullrich Junker ist der Reprint eines Buches von 1842 zu verdanken, in dem die Geschichte des Ortes und auch der Kirche beschrieben wird. Zu meinem Entsetzen hatte man direkt an die Kirche angrenzend nunmehr einen modernen Supermarkt erbaut.

Hirschberg

Nach einigen weiteren Kilometern hatte ich mein endgültiges Ziel Hirschberg (Jelenia Góra) erreicht und quartierte mich in meiner Unterkunft unterhalb des ehemaligen Cavalierberges ein. Die darauffolgenden Tage nutzte ich in erster Linie zum Besuch des in der Stadt angesiedelten Staatsarchives (Archiwum Państwowe we Wrocławiu Oddzial w Jeleniej Górze). Sinnigerweise befindet sich das Archiv seit 2004 in der ehemaligen Hubertus-Kaserne der Wehrmacht an der Grunauer Straße, was unschwer an der Architektur erkennbar ist. Schmunzeln mußte ich beim Durchfahren des Eingangsportals, welches geschmückt ist durch bronzene Hirsche, laut Archivar das Geschenk Görings. Die Geschichte des Geschenks findet sich auch hier auf polnisch. Demnach erblickte Göring die Hirsche vor dem Gericht in Maiwaldau (Maciejowa) und befand, sie sähen vor der Kaserne in Hirschberg repräsentativer aus.


Wie dem auch sei, ich wurde im Archiv sehr freundlich empfangen und man legte mir, ohne auf die Mittagspause zu achten, eine Archivalie nach der anderen vor. Warum man ziemlich kompliziert verschiedene Arten von Findbüchern statt der hervorragenden Onlinedatenbank PRADZIAD benutzt, konnte ich nicht nachvollziehen. Die Kommunikation erfolgte erstaunlicherweise mit einem der anwesenden Archivare auf Französisch. Leider mußte ich hier, wie auch in anderen Archiven feststellen, daß es so mancher auswärtige Besucher an Sensibilität fehlen läßt. In einem polnischen Archiv wird man nicht besser verstanden, wenn man ganz laut Deutsch spricht!

Neben den Archivbesuchen besichtigte ich selbstverständlich auch die Stadt Hirschberg. Der unmittelbare Innenstadtbereich, vor allem Ring mit Rathaus, Bahnhofstraße (ul. 1 Maja) und die Kirchen waren erstklassig wiederhergestellt. Besonders erwähnenswert ist sicher die ehemals evangelische Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz (Kościół Św. Krzyża), erbaut 1709–1718. Besonders ist auch der um die Kirche befindliche sogenannte Gnadenkirchhof. Er ist von einer Mauer mit 19 Grufthäusern von Patrizierfamilien der 1658 begründeten Hirschberger Kaufmannssozietät umgeben. Alle wertvollen Grabplatten und -monumente im Innenbereich des Friedhofs wurden nach 1945 zerstört. Erfreulicherweise kürzlich restauriert wurden die prachtvollen Epitaphien und Grufthäuser entlang der Innenseite der Friedhofsmauer.

Bei dem immer noch extrem heißen Wetter waren zahlreiche deutsche Touristengruppen unterwegs. Überhaupt fiel auf, das man sich in Hirschberg auch noch auf Deutsch verständigen konnte. Die ganz im Gegensatz zu Breslau, wo mittlerweile Englisch als Fremdsprache dominiert.

Außerhalb der Ringstraßen Bankowa und Podwale stellt sich der Zustand der Stadt leider anders als der unmittelbare Altstadtbereich dar. Da Hirschberg im Zweiten Weltkrieg nur geringfügig zerstört wurde, befindet sich ein Großteil der Stadt im Zustand wie 1945: viele Straßenzüge zeigen eine geschlossene gründerzeitliche Bebauung. Leider befindet sich diese in überwiegend sehr schlechtem Zustand. Erfreuliche Ausnahmen bestätigen die Regel. Selbstverständlich gehörte zu einer wichtigen Kreisstadt, wie Hirschberg sie darstellte, auch ein Villenviertel. Dieses befindet sich fast noch im Originalzustand unterhalb des Cavalierberges (Wzgórze Kościuszki) und erinnerte mich in weiten Strecken an Berlin-Dahlem. In dem Viertel findet sich auch das - natürlich von der EU mitfinanzierte - neu gestaltete und sehr sehenswerte Riesengebirgsmuseum (Muzeum Karkonoskie).

Petersdorf

Einen Nachmittag nutzte ich zu einer Fahrt in den Geburtsort meiner Großmutter Petersdorf (Piechowice), gut 13 km von Hirschberg entfernt. Hier wurde ich mehr als positiv überrascht: mit Hilfe von EU-Mitteln und dem Engagement ehemaliger Bewohner war an die Stelle der der abgerissenen evangelischen Kirche in Sichtweite der Brücke über den Zacken ein schöner kleiner Park angelegt worden. In Granitstelen hatte man Glasscheeiben eingelassen, in die Photos der alten deutschen Kirche geätzt waren. Eine sehr geschmackvolle Idee!

In einem guten Zustand fand ich auch das Stammhaus meiner großmütterlichen Schmidt-Vorfahren am Zacken vor. Auch das Haus, in dem der Bruder meines Großvaters, Schneidermeister Paul Ullrich und nach dem Todes ihres Mannes seine Schwiegermutter Anna Bertha Schmidt gewohnt hatten, existierte noch. Es hatte sogar ein neues Dach erhalten. Überhaupt wurde an allen Ecken und Enden in der Stadt gewerkelt. Eine Ausnahme bildete allerdings der alte Bahnhof, über den die Zeit hinweg gezogen war.

Zu meinem großen Erstaunen existierte auch immer noch die Glashütte, in der mein Urgroßvater Gustav Hermann Schmidt als Glasschleifermeister gearbeitet hatte: die Josephinenhütte..... ganz klar ist das nicht, denn in der Familie hieß es immer, er sei "über den Berg gegangen". Dies hätte geheißen, daß er in der Hütte im benachbarten Schreiberhau (Szklarska Poręba) gearbeitet hätte.... ich jedenfalls nutzte die Gelegenheit zu einer Führung durch die 1958 in "Julia" umbenannte Glashütte.
Anschließend machte ich noch eine Stippvisite im touristisch sehr gut besuchten Schreiberhau, aus der eine Vorfahrin von mir stammt, und fuhr auf dem Rückweg zum Hotel noch einen Umweg zum Schloß Lomnitz (Pałac Łomnica), welches durch den Wiederaufbau durch die ursprüngliche Besitzerfamilie von Küster mediale Aufmerksamkeit erlangt hat.

Fazit der Reise: Wie ich schon bei meinem Besuch Danzigs 2009 feststellen konnte, hat Polen, vor allem seit dem EU-Beitritt, einen enormen Entwicklungsschub erhalten. Erfreulicherweise besinnt man sich in den alten deutschen Siedlungsgebieten nun auch der früher tabuisierten Geschichte und versucht oftmals zu retten, was noch zu retten ist. Leider kommen diese Bemühungen vor allem in peripheren Gebieten so manches Mal zu spät. Zerstörte Friedhöfe und abgerissene evangelische Kirchen sind nicht wieder aufbaubar.
Breslau und das Riesengebirge sind aber allemal eine Reise wert, auch wenn keine familiären Wurzeln bestehen.


Literaturempfehlungen:

Gawin, Izabella, City Trip Breslau, Bielefeld 3. akt. Aufl. 2014/15 (= Reise Know how)