Kriegsgefangenschaft Oktober 1944 - April 1945

Für die Zeit vom 4. Oktober (Gefangennahme) bis 9. Dezember 1944 (Einlieferung in das Kriegsgefangenenhospital) liegen keine Meldungen über den Verbleib meines Großvaters vor. Es existieren allerdings diverse publizierte Berichte über das Schicksal der in Rumänien in Kriegsgefangenschaft geratenen Wehrmachtssoldaten. So berichtet Sörensen detailliert über diese Zeit. Er wurde Anfang September beim Fall Bukarests gefangengenommen. Seiner Aussage nach wurden die deutschen Kriegsgefangenen sofort nach dem Ende der Kampfhandlungen in den verschiedenen Orten Rumäniens gesammelt und - wegen der Zerstörung der Bahnlinien - in Gewaltmärschen über oft mehrere hundert Kilometer nach Focsani getrieben. Bis dorthin ging damals die auf russische Spurbreite umgelegte Eisenbahnlinie aus dem Osten. In Focsani war früher eine deutsche Luftwaffeneinheit stationiert und die Kriegsgefangenen, im September 1944 um die 25.000, wurden dort einquartiert. Laut Sörensen herrschte Nahrungsmangel und Ruhr und Typhus. Sein Transport nach Osten umfaßte einen Zug von etwa 60 Viehwaggons, in die je ca. 60 Gefangene gepfercht wurden. Ein Großteil dieser Transporte (ca. 15.000 Mann) ging in das Donbass-Gebiet um Stalino (heute Donezk) und die Gefangenen wurden in den Schachtanlagen oder beim Wiederaufbau der komplett zerstörten Region eingesetzt. Von Oktober 1944 - Ende März 1945 wurden schätzungsweise 350.000 Gefangene in die Sowjetunion gebracht.

[Quellen: H. Sörensen: Finale Rumänien. Die Tragödie der 750.000 Kriegsgefangenen. Berlin 1949; K. W. Böhme: Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Eine Bilanz. München 1966, S. 55 f.]

Über das weitere Schicksal meines Großvaters erfuhr ich nur scheibchenweise. 1988 gab es bei der Deutschen Dienststelle (WASt) Berlin immer noch keine anderen Neuigkeiten als die alte Vermißtenmeldung. Nach der sensationellen Öffnung des Moskauer Sonderarchives stellte ich sofort 1999 eine Anfrage beim Suchdienst des Roten Kreuzes in München und man informierte mich in einer Standardantwort über Todesdatum und -region meines Großvaters. So erfuhr ich überhaupt, daß er die Großoffensive 1944 in Rumänien überlebt hatte und in Kriegsgefangenschaft geraten war. Auf Nachfrage teilte man mir den gesamten Datensatz mit, den man aus Moskau erworben hatte. Aus Kostengründen handelte es sich um kursorische Zusammenfassungen der gesamten, in Moskau lagernden Akten. Mein Großvater war demnach am 16. April 1945, genau 10 Tage vor seinem 44. Geburtstag, im Lager 6031 Roja (Ukraine, 30 Km westl. vom heutigen Donezk) gestorben und auf einem "Friedhof, 700 m vom Lager entfernt an einem Grabenplateau beim Sowchos Schachtar" beerdigt worden. Beigelegt waren die Kopien einer alten amerikanischen Karte sowie einer aktuellen ukrainischen Landkarte. Demnach lag der Ort Sowchos Schachtar ca. 35 Km südlich von Roja und hieß heute Schachterskoje.
Aufgrund der Nachricht sammelte ich alle Informationen, die ich über Kriegsgefangenenlager im Donezgebiet erhalten konnte. So erfuhr ich, daß Lager 6031 kein Arbeitslager sondern ein Kriegsgefangenenhospital war.

Russische Kriegsgefangenenhospitäler

Roja war eines vom insgesamt 51 Kriegsgefangenenhospitälern in der sog. Südregion der Sowjetunion. Dort entstanden die ersten Arbeitslager sofort nach der Rückeroberung des Donezbeckens 1943. Es gab verschiedene Unterbringungsarten von kranken Kriegsgefangenen. In Lazarettlager wurden kranke Kriegsgefangene aufgenommen, wenn die Behandlungsmöglichkeiten des Krankenreviers nicht mehr ausreichten. Dabei ließen sich Lazarettlager, die jeweils einer Lagerverwaltung unterstanden und gewöhnlich ihren Sitz im Hauptlager unter der Bezeichnung Zentrallazarett hatten, und sogenannte Kriegsgefangenenhospitäler unterscheiden. Die Kriegsgefangenenhospitäler unterstanden zuerst auch verwaltungsmäßig einer Lagerverwaltung, wurden später aber selbständig. Nur in vereinzelten Ausnahmefällen wurden Kriegsgefangene auch in öffentlichen Krankenhäusern behandelt. Gefangene mit leichten Erkrankungen wurden in Lazarette eingeliefert, schwerere Erkrankungen wurden in Zentrallazaretten behandelt. Nach Genesung wurde der Gefangene in sein ursprüngliches Lager zurückgebracht. In Kriegsgefangenenhospitälern wurden wohl die schlimmsten Fälle eingewiesen, denn sie schieden zugleich auch aus ihrer Uprawlenije aus. Roja wird in den Akten meines Großvaters immer abgekürzt "S/H" für Spezialhospital genannt. Damit dürfte es in die Kategorie Kriegsgefangenenhospital fallen. Die eigene Lagernummer weist auf die Selbständigkeit des Lagers hin. Wie einige andere Kriegsgefangenenhospitäler im Donbass begann sie auch mit einer "6".

Die Verpflegung in den Lagern im Gebiet Donbass war nach Zeugenberichten von September - Dezember 1944 außerordentlich gering. Sie betrug täglich 600 Gramm feuchtes Brot und drei Mal Wassersuppe. Daraufhin kam es November 44 zu Massensterben, woraufhin Ende Dezember und Januar 1945 die Ernährung verbessert wurde. Im März 1945 wurde die sogenannte Dystrophikerverpflegung wieder gedrosselt.

Die Bedingungen in den Hospitälern waren katastrophal. Das erste von Heinz Konsalik veröffentlichte Buch "Der Arzt von Stalingrad" (1956) spielt in einem solchen Hospital und beruht offenbar auf Heimkehreraussagen. Beim Lesen bekommt man einen ersten Einblick in die Geschehnisse dort. Auch vom DRK gesammelte Aussagen sprechen von sieben Schwerkranken in drei nebeneinander gestellten Betten und davon, daß sich das Sanitätspersonal, selbst auf schmale Kost gesetzt, an den Rationen der Kranken bediente. Vom Hospital Anthrazit wird von drei Gefangenen in zwei Betten berichtet und davon, daß es wegen mangelnder Heizung zu Erfrierungen kam. Die Kranken standen bei der Kälte nicht auf. Als Sanitäter wurden rekonvaleszente Gefangene eingesetzt. Diese stellten zwei Schüsseln Wasser ins Zimmer, in dem sich dann 15-20 Kranke waschen sollten. Wegen der vorherrschenden Ruhrerkrankungen war die Bettwäsche völlig verschmutzt. Von einem anderen Lager im Donbass wird berichtet, daß kriegsgefangene Ärzte sich wegen fehlender Medikamente im Lazarett hauptsächlich um die Hygiene kümmerten und kleine chirurgische Eingriffe wie Öffnen von Abszessen vornahmen. Ein deutscher Arzt berichtet von seiner Arbeit in einem Hospital (Oranki). Dies bestand aus zwei großen einstöckigen Holzhäusern und faßte ca. 300 Mann. Die Zimmer waren mit je etwa 30 bis 40 Mann in Pritschen belegt. Diese waren ausgestattet mit Strohmatrazen und -kopfpolstern, wollenen Decken und als Bekleidung Nesselhemden und Unterhose. In jedem Raum stand nur ein Hocker und ein Tisch. Die russischen Ärzte dort waren meist Frauen, oft jüdischstämmisch, und die Zusammenarbeit mit den deutschen Ärzten funktionierte wohl augenscheinlich. Dem Bericht des Arztes nach wurden täglich Krankengeschichten geschrieben mit laufenden Nachträgen. Wegen der Belegung des Hospitals mit Deutschen, Rumänen, Italienern, Ungarn, Balkanjuden, Spaniern und Elsässern war die Verständigung schwierig. Allgemeine Verständigungssprache war russisch, welches die Ärzte lernten. Auch die Krankengeschichten, Sektionsprotokolle (alle Toten wurden obduziert) und Laborberichte wurden auf russisch verfaßt. Es gab wenige Medikamente, vor allem kaum Antibiotika. Auch ein Röntgengerät zur Diagnose von Tbc stand nicht zur Verfügung. Malaria, Gelbsucht, Typhus und Diphtherie wurden nur symptomatisch behandelt. Wurde operiert, war die Frage, ob das streng rationierte Nahtmaterial auch reichte

Da das Hospital als Sprungbrett zur Heimfahrt galt, versuchten die Gefangenen, dort so lange wie möglich zu verweilen. Der oben schon zitierte Arzt berichtet, daß fast alle Gefangenen im Hospital versuchten, möglichst kein Gewicht zuzunehmen. So gab es "Wiederkäuer, Rattenesser, Aufsparer, Zeitlupenspeiser, Dauerrenner, Kettenraucher... Salzesser." Schwierig war die Arbeit der russischen Ärzte. Diese konnten nicht frei handeln, standen unter dauernder Aufsicht. Auch in Arbeitslagern hatte sie sich bei Krankschreibungen an Normzahlen zu halten. Dies galt auch bei der Bettenbelegung und der Liegezeit. Allgemein galt, daß es Arzt um so besser gearbeitet hatte, je weniger Leute krank und damit arbeitsunfähig geschrieben wurden. Der deutsche Arzt nennt das Schema, nach dem die Hospitalärzte Gefangene krankschrieben: 1. Es muß etwas zu sehen sein. 2. Das Thermometer muß erheblich ausschlagen.

Die Aufnahme in die Hospitäler erfolgte meist in einem Baderaum. Dort wurden die Kranken gezählt, ihnen alle Kleidungsstücke und anderen Gegenstände weggenommen, sie mußten sich in einer Schüssel Wasser waschen und anschließend wurden ihnen von (weiblichen) Friseuren alle Körperhaare abrasiert. Danach erfolgte die Überführung in das eigentliche Hospital. Vom Hospital Tiflis wird berichtet, daß alle 4-5 Wochen ein Wäschewechsel stattfand, für 500 Mann nur ein Abort mit zwei Sitzen vorhanden war. Als Eßgeschirr dienten Konservenbüchsen. Von den 1500 Mann im Hospital starben täglich 15-20 Personen. Allgemein wird berichtet, daß um 20 und über 40jährige und besonders Angehörige der rückwärtigen Dienste zuerst starben. Für das Lager Asbest heißt es, daß vor allem Kaufleute und Verwaltungsangestellte zuerst starben.

Die Beerdigung der nackten, obduzierten Toten fand in fast allen Lagern bis 1946 in Massengräbern statt, erst später ging man zur Einzelbeerdigungen über. Manchmal legte man Flaschen mit Zetteln bei oder Holzstückchen.

[Quellen: K. W. Böhme: Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Eine Bilanz. München 1966, S. 85 f., 258 f., 242ff 262 ff, 281f; D. Cartellieri, die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Die Lagergesellschaft, Bd. 2, München 1967, S. 63; DRK Suchdienst: Zur Geschichte der Kriegsgefangenen im Osten, Bd. 2. , S. 31ff, 170 ff; Herbert Thiess senior, Als Bauarbeiter in der Sowjetunion, 1952]

Das Schicksal meines Großvaters

Seit den durch die Deutsche Dienststelle erhaltenen Informationen spukte immer die Idee in meinem Kopf herum, selbst einmal in die Ukraine nach Roja zu fahren und den Todesort meines Großvaters zu suchen. Ich hatte keine Vorstellung, was mich dort erwarten würde und entwickelte Phantasien über noch vorhandene Lagerreste und das ominöse, in der Todesnachricht erwähnte Grabenplateau, wo mein Großvater beerdigt worden war.

Im Juli 2005 hatte ich dann Gelegenheit, mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in die Ost-Ukraine nach Donezk zu reisen. Einen ausführlichen Reisebericht habe ich hier veröffentlicht. Hauptzweck meiner Reise war der Besuch Rojas, weshalb ich mich für zwei Tage von der Reisegruppe absetzte. Als Experte wurde mir Herr Dermeiner an die Seite gestellt, der eine Firma zur Suche von deutschen Kriegsgefangenen gegründet hat. Die Fahrt nach Roja mit ihm stand unter keinem guten Stern. Schon bei der Vorbesprechung gab es Probleme, weil (angeblich?) mein vorab über das Reisebüro für die zwei Tage überwiesene Geld (eine ziemliche Summe) nicht angekommen war. Dann wurden mir Unterlagen präsentiert, die für die Anfrage eines anderen Deutschen erstellt worden waren, dessen Angehöriger auch im Lager 6031 verstorben war. Es handelte sich um zwei beglaubigte Zeugenberichte, die bescheinigten, daß die Personen vom Beerdigungsort des Lagers 6031 wußten. Beide Zeugen beschrieben 2003 einen Ort, an dem die Deutschen verscharrt worden waren. Herr Dermeiner präsentierte mir den Ausschnitt einen alten Stadtplans sowie eine Handskizze über den "Friedhof". Recherchen in Moskau oder in lokalen Archiven waren augenscheinlich nicht gemacht worden.

Wie in meinem Bericht beschrieben, fuhren wir an die (angebliche?) Grabesstelle. Dort trafen wir auf zwei Personen, die allerdings sagten, beim Bau der Plattenhäuser hinter ihnen in den 1970er Jahren seien immer wieder Knochen ausgegraben worden. Ich war zu aufgeregt, um die kleinen, mit Bleistift in die alte Karte gezeichneten Kreuzchen, wahrzunehmen. Diese lagen genau im Gebiet der heutigen Plattenbauten. Erst nachträglich, bei Übersetzung der Aussagen ersah ich auch, daß an der Stelle, wo heute ein Supermarkt zwischen den Plattenbauten steht, das Lager gewesen sein sollte (auf dem Stadtplan die "14"). Wir fuhren vorbei. Mir hingegen wurde als Lagerstandort eine Stelle an den Bahngleisen in Sichtweite des Kraftwerkes präsentiert (auf dem Stadtplan etwa bei der "49"). 2005 war ich mit diesen Auskünften zufrieden und stellte sie nicht in Frage, zumal sie mir auch als ultimatives Rechercheergebnis präsentiert wurden. Eine Fahrt zum Ort Schachterskoje wurde gar nicht mehr in Erwägung gezogen, denn der läge zu weit weg.

Ganz erhebliche Zweifel an den mir präsentierten Dingen entstanden im Frühjahr des darauffolgenden Jahres. Nach einer Anfrage im Juli 2005 hatte ich im Februar 2006 aus Moskau die längere Zusammenfassung der Kriegsgefangenenakte meines Großvaters erhalten. Demnach befand sich der Friedhof 700 m vom Hospital entfernt auf dem Areal der Sowchose Schachtar und 200 m südwestlich der "östlichen Siedlung". Leider hatte man mich mißverstanden, an und für sich hätte ich gerne Kopien der Akte erhalten. So wandte ich mich an das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz. Ein höchst kompetenter Mitarbeiter versprach mir die Beschaffung der Akte meines Großvaters beim nächsten Besuch in Moskau. Durch ihn erhielt ich allerdings noch weitergehende Informationen, die mich hellhörig machten: den Hinweis darauf, daß es in Roja neben dem Kriegsgefangenenhospital auch ein Gefangenenlager gab: Lager Nr. 280 Donbasskij, Abt. 18 Station Kurachovka. Die dortigen Gefangenen waren u.a. in einem Kraftwerk (offenbar das, was ich gesehen hatte) eingesetzt. Dann, und das war für mich der absolute Clou, hatte das BIK vor Jahren schon aus dem Lagerbuch des Kriegsgefangenenhospitals 6031 den Lageplan des Friedhofs kopiert - und diese Zeichnung deckte sich scheinbar in keiner Weise mit der Stelle, wo ich im Juli 2005 gewesen war! Ich drehte die Skizze hin und her, aber die darauf abgebildete Straße schien absolut deckungsgleich mit einer noch heute dort vorhandenen Straße im Osten Kurachowo-Roja zu sein.

Nach weiteren Recherchen erhielt ich zwei Aussagen des in Roja arbeitenden deutschen (Kriegsgefangenen-) Arztes Paul Zoller. Dieser versuchte die Lage des Lagers zu beschreiben. 6031 habe demnach 3 Km von der Bahnstation Roja an den Gleisen der Strecke nach Stalino gelegen. 2 Km, in einer anderen Aussage 3-4 Km entfernt, lag das Lager 18 beim Ort Kurachogress und die Gefangenen arbeiteten am Aufbau eines Dampfkraftwerkes.


Weiteren Aufschluß über das Schicksal meines Großvaters brachte der Erhalt der Kopie der Kriegsgefangenenakte aus Moskau über das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung im Juli 2006. Die Akte enthielt keinerlei persönlichen Unterlagen mehr, bestand aber aus zwei Teilen. Teil 1 war die erst am 8. März 1945, d.h. fünf Monate nach seiner Gefangennahme verfaßte Personalakte. Erschütternd zu sehen war seine eigenhändige Unterschrift in der Akte. Noch schlimmer war allerdings das Lesen seiner Krankenakte, die erstaunlicherweise vollständig vorhanden war - begonnen auf vorgedruckten Bögen und später fortgeführt unter Ermangelung von Papier auf herausgerissenen Lexikonseiten (sinnigerweise ukrainisch-russisch).

Demnach wurde mein Großvater am 10.12.1944 mit der Diagnose Dystrophie und Krätze in angeblich "befriedigendem Zustand" in das Kriegsgefangenenhospital eingeliefert. Die Untersuchung ergab zusätzlich zur Unterernährung noch einen Leistenbruch rechts. Akribisch wurde in den nächsten Monaten Tag für Tag die Temperatur gemessen, die normal war und der Zustand des Patienten dokumentiert. Dieser schleppte sich von Tag zu Tag mit immer schlimmer werdendem Durchfall, bis er schließlich in eine andere Abteilung verlegt wurde. Interessant ist die Tatsache, daß es wiederholt in der Akte detaillierte Anweisungen zur Herstellung von homöopathischen Medikamenten gegen Magenprobleme und Krätze gab. Es wurde also im Rahmen der sehr bescheidenen Möglichkeiten versucht, die Leiden der Gefangenen zumindest zu mildern und die Anweisungen müssen durch einen ausgewiesenen Fachmann erfolgt sein. Weiterhin wird für Anfang Februar 1945 ein Bad und Wäschewechsel genannt. Auf die Ernährung wird nicht Bezug genommen, sie dürfte aber völlig unzureichend gewesen sein. Trotz der Bemühungen hatte mein Großvater sich im März bereits wundgelegen und ab Anfang April verfiel er rapide, konnte seit dem 12. gar nicht mehr aufstehen. Am 16.4. um 6 Uhr morgens verstarb mein Großvater dann nach dem Krankenblatt in der 7. Krankenhausabteilung an Herz-Kreislauf-Versagen und Unternährung (Dystrophie III). Er hatte das Hospital seit dem 10. Dezember nicht einmal mehr verlassen.

Auf zwei weiteren Blättern in der Akte wird vom Lagerkommandanten und Wachen der Tod und die Beerdigung bescheinigt. Nun hatte ich auch den richtig lautenden Text: "Friedhof 700 m vom Hospital hinter dem Einfanggraben der Sowchose Schachtar 200 m südwestlich der 'östlichen Siedlung' in Grab 113".

Das Spezialhospital 6031 Roja

Wie es meinem Großvater ergangen ist, konnte ich bis zum Frühjahr 2009 nur indirekt aus seinem Krankenblatt ablesen und Vergleiche zu Berichten von Überlebenden aus anderen Kriegsgefangenenhospitälern ziehen. Dann kam mir das Internet zur Hilfe. Aus den USA erhielt ich die E-mail des Sohnes eines ehemaligen Gefangenen des Hospitals 6031! Sein mittlerweile 94jähriger Vater hatte anläßlich einer Familienfeier über seine Kriegserlebnisse berichtet und die Lagernummer genannt. Die Internetrecherche der Lagernummer hatte den Sohn auf meine Homepage aufmerksam gemacht. Weitere Informationen ergaben, daß Herr Maier, der 1949 in die USA ausgewanderte ehemalige Infanterist der 320. Infanteriedivision ebenfalls in Rumänien gefangengenommen und dann nach Roja ins Hospital gebracht worden war.

Der Hilfsbereitschaft von Herrn Maier habe ich es zu verdanken, daß er sich der Mühe unterzog, seine Erlebnisse schriftlich zu verfassen. Demnach geriet er bei der Augustoffensive 1944 in Gefangenschaft und mußte in verschiedene Sammellager marschieren. Ende September ging es per Lazarettzug nach Osten. Dieser war im Gegensatz zu den sonst verwendeten Kriegsgefangenenzügen recht komfortabel. Andere Autoren berichten darüber, daß nach der Gefangennahme in Rumänien die Soldaten in Sammellager kamen. Übereinstimmend heißt es für diese, daß dort überall wegen fehlender sanitärer Anlagen Ruhrepidemien ausbrachen. Trotzdem wurden die Gefangenen in geschlossene Viehwaggons verladen, die fast non-stop zu ihren Zielen fuhren. Ein Loch im Fußboden diente als Abtritt. Offenbar gab es weder regelmäßige Nahrung noch Wasser. Herr Maier hingegen erreichte mit dem Lazarettzug bei recht guter Ernährung nach drei Wochen das Hospital Roja bei Stalino (Donezk). Auf welchem Weg mein Großvater nach Roja gelangte, ist ungewiß.

Laut Herrn Maier lag das Hospital in Hörweite einer Eisenbahn, die aber für die Gefangenen nicht sichtbar war. Der Lagerkomplex setzte sich aus ca. 14 Gebäuden zusammen, die Baracken waren mit 100-150 Mann belegt, wobei sich zwei Mann je ein Feldbett teilen mußten.

Nach Aussage des Lagerarztes Dr. Zoller war das Lager interessanterweise bis November 1944 ein sog. "Evacuohospital" der Roten Armee. Auch eine ukrainische Zeitzeugin hatte berichtet, daß der Gebäudekomplex 1943 ein Lazarett der Roten Armee war. Sie hatte dort gearbeitet. Angeblich war dort vorher ein Lazarett der Deutschen Wehrmacht. Auch Herr Maier vermutete schon, daß das Hospital früher entweder eine Kaserne für ein Bataillon oder eine Landwirtschaftsschule war. Laut Dr. Zoller wurde das Lager am 11. November 1944 dann mit verwundeten und kranken deutschen Kriegsgefangenen belegt, die mit einem Lazarettzug aus Balti/ Rumänien kamen. Unter Ihnen war auch der deutsche Arzt. Später erreichten auch Züge aus Jassy und Uman /Rumänien das Lager. Leider ist der deutsche Lagerarzt schon 1973 verstorben und es gibt außer diesen Aussagen keinen Nachlaß. Wie ich mit großem Erstaunen feststellte, wohnt sein Sohn heute noch im elterlichen Haus und erteilte mir bereitwillig Auskunft.

[Quellen: R. Hasemann: Nasses Brot, Pfullingen 1952; K. W. Böhme: Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Eine Bilanz. München 1966, S. 85 f., 258 f; A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr. Dt. Kriegsgefangene in der Sowjetunion. München, 234ff; W. Ratza: Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Bd. 4: Faktor Arbeit, München 1973, S. 330. G. Maier: Erinnerungen aus der Kriegsgefangenschaft vom Ende August 1944 bis 31. Oktober 1945. Manuskript 2009 (pdf-Format); auf Video aufgezeichnete Aussagen einer alten Bewohnerin Rojas ]

Herrn Maier habe ich eine detaillierte Beschreibung der Zustände im Hospital Roja zu verdanken. Auch hier gab es neben den deutschen zahlreiche rumänische Gefangene. In einer separaten Baracke waren zudem eine ganze Reihe von deutschen Krankenschwestern untergebracht, die aus einem Feldlazarett stammten und im Hospital aushalfen. Bei den Baracken wurde zwischen chirurgischen und internistischen unterschieden. Eine ärztliche Betreuung fand durch eine russische Ärztin im Rang eines Majors und durch einen aus Wien stammenden Dr. Lutz statt. An Dr. Zoller kann sich Herr Maier erstaunlicherweise nicht erinnern. Waren also zwei deutsche Ärzte im Hospital beschäftigt? Im Gegensatz zur Akte meines Großvaters, die nur ein Bad und Wäschewechsel verzeichnet, berichtet Herr Maier von Bädern ca. alle zwei bis drei Wochen. Seine Aussagen zur Interaktion zwischen den Gefangenen und den Angestellten des Hospitals decken sich mit den Berichten der Zeitzeugen, die ich in Roja traf. Auch diese erzählten davon, daß die Gefangenen Dinge bastelten und verschenkten resp. gegen Essen tauschten. Die Zeuginnen sagten aber auch, daß ebenfalls die Dorfbevölkerung Rojas zu der Zeit hungerte. Somit ist es nicht verwunderlich wenn Herr Maier berichtet, daß die Angestellten des Hospitals vom für die Gefangenen bestimmten Essen etwas für die eigenen Familien abzweigten. Entsprechend hoch war die Sterblichkeit der ohnehin schon geschwächten Gefangenen, die Herrn Maier auf ca. 1200 Tote in sechs Monaten schätzt. Er selbst kann zur Lage des Sammelgrabes nichts berichten, außer, daß die Toten während des Winters erst wegen des gefrorenen Bodens in den Schnee gelegt wurden. Eine Beerdigung fand erst im Frühjahr statt. Auch eine im Hospital arbeitende Zeitzeugin erinnert sich daran, daß täglich Tote aus den Baracken geholt und hinter einen "Berg" gebracht wurden.

Nach Herrn Maiers Aussage gab es keine adäquate Medikation, man behalf sich irgendwie mit den wenigen vorhandenen Sachen. Spritzen wurden geschliffen und Verbände ausgekocht. Die akkurat geführte Krankenakte meines Großvaters mit täglichem Verzeichnis der Körpertemperatur erklärt sich nun auch: täglich morgens wurde die Temperatur der Kranken von der "Hauswartin" gemessen, die auch die Toten aussonderte - nachdem sie ihnen die Goldzähne herausgebrochen hatte.

Das Hospital Roja bestand nur bis zum 26. Oktober 1945. Der Rest an Kranken und das Stammpersonal wurde ins 12 Km entfernte Hospital Zukuricha 6047 verlegt. Die Masse der Kranken war vorher in das Arbeitslager 280/18 gebracht worden, so wurde auch Herr Maier etwa Ende Mai dorthin verlegt. Von dort fuhr dann einer der ersten Heimattransporte nach Deutschland. Herr Maier wurde bereits im September/Oktober aus der Kriegsgefangenschaft entlassen.

Exkurs: Die Lager 280/16 und 280/18 in Roja

Das Gros der im Donbass angekommenen Kriegsgefangenen wurde, noch erschöpft von den langen Rückzugskämpfen, sofort zu Aufräumarbeiten und der Wiederherstellung des Verkehrsnetzes eingesetzt. Später mußten Städte wiederaufgebaut werden, Arbeit mußte dafür auch in Zementwerken und Steinbrüchen geleistet werden. Der Arbeitseinsatz in Roja umfaßte Straßenbau, Steinkohlebergbau, Bau von Wohnungen, Arbeit in einem Elektrizitätskraftwerk und an einem Staudamm sowie Eisen-, Stahl- und Metallwarenproduktion. In Roja befand sich in 2 Km Entfernung vom Hospital 6031 das Arbeitslager 280/18, dessen Insassen hauptsächlich beim Aufbau des Dampfkraftwerkes eingesetzt waren. Der Bau dieses Kraftwerkes war in den 1930er Jahren begonnen worden. Es wurde beim Rückzug der deutschen Wehrmacht Anfang September 1943 in die Luft gesprengt.

[Quellen: R. Hasemann: Nasses Brot, Pfullingen 1952; K. W. Böhme: Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Eine Bilanz. München 1966, S. 85 f., 258 f; a. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr. Dt. Kriegsgefangene in der Sowjetunion. München, 234ff; W. Ratza: Die deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand. Bd. 4: Faktor Arbeit, München 1973, S. 330. ]

Herr Maier wurde etwa Ende Mai 1945 als "bedingt arbeitsfähig" in ein Kriegsgefangenenlager verlegt, welches ca. 10-15 Geh-Minuten südlich vom Dampfkraftwerk entfernt lag, das die Gefangenen unter primitivsten Bedingungen wieder aufbauen sollten. Im Gegensatz zum im Hospital aufgestellten Schild sah Herr Maier nirgends eine Nummer des Arbeitslagers. Aufgrund der Aussage anderer Zeugen, vor allem denen des Arztes Dr. Zoller, handelte es sich höchstwahrscheinlich um das Lager 280/18. Dieses Arbeitslager war im Sommer 1945 mit ca. 600 Mann belegt. Jeden Morgen gingen fünf Kompanien à 100 Mann zum Kraftwerk. Die Kompanie von Herrn Maier bestand aus Genesenden, Amputierten, Dystrophikern und körperlich Schwachen und wurde nur bedingt zur Arbeit herangezogen. Die Männer blieben im Lager zum Verrichten leichter Arbeiten. Ebenfalls im Lager verblieb die deutsche Lagerverwaltung, etwa 60 Mann, die zumeist aus ehemaligen KZ-Häftlingen oder Angehörigen des Bewährungsbataillons 580 bestand. Das Arbeitslager stand anscheinend im engen Kontakt zum Hospital 6031, denn wenn es den Gefangenen des Arbeitslagers nicht gut ging, wurden sie temporär wieder ins Hospital verlegt.

Interessanterweise wurde Herr Maier für eine kurze Zeit im Spätsommer 1945 zur Arbeit auf einer nur 15 Fahr-Minuten entfernten Kolchose eingesetzt. Er kann sich an den Namen der Kolchose nicht mehr erinnern. Es dürfe sich aber um die in den Grablageplänen benannte "Sowchose Schachtar" gehandelt haben.

Herr Maier kann sich - außer an Hospital 6031 - an keinerlei anderes Lager in Roja erinnern. Wohl erinnert er sich an eine Theateraufführung. Dies ist vor dem Hintergrund der folgenden Schilderungen interessant.

Durch einen Leserbrief in der Lokalpresse hatte ich bereits vor einigen Jahren zufällig Kontakt mit einem Münsteraner erhalten, der nach 1945 im Arbeitslager 280/18 in Roja interniert war. Allerdings war er durch so viele Kriegsgefangenenlager Rußlands geschleust worden, daß er sich nur unter Schwierigkeiten erinnern konnte. Zudem war er in Roja nur einige Monate gewesen. Jedenfalls konnte er sich daran erinnern, daß die Gefangenen zu dem Kraftwerk gebracht wurden, um dort bei eisiger Kälte Kohlen von den Waggons abzuladen. Auch an eine Sowchose konnte er sich erinnern, allerdings nicht an den Namen. Von einem Hospital in Roja hatte er nichts gehört. Allerdings waren die Gefangenen von Lager 280/18 zu seiner Zeit aber auch komplett von der Außenwelt abgeschirmt.

Aus Dänemark erreichte mich dankenswerterweise der Hinweis auf den biographischen Bericht von Alfons Heising, der in Lager 280/18 interniert war und die Zeit dort detailliert berichtet.

Über Frankreich erlangte ich Kontakt zu einem ehemaligen Kriegsgefangenen, dessen Geschichte besonders tragisch ist. Der Elsässer Emile Roegel (Jahrgang 1925) war in die deutsche Wehrmacht zwangsrekrutiert worden (die sogenannten Malgré-Nous ["wider unseren Willen"]) und geriet als Angehöriger der 384. ID bei den schweren Kämpfen in Rumänien am 25. August 1944 in sowjetische Gefangenschaft. Nach einem 8tägen Transport in Viehwaggons von Tiraspol über Kiew erreichte er etwa am 10. September ein Gefangenenlager bei Stalino, welches die Gefangenen als "Reuna" bezeichneten und bei welchem es sich mit höchster Wahrscheinlichkeit um das Lager 280/18 in Roja handelte. Er verblieb bis zu seinem Transport in ein weiteres Lager bis Anfang Oktober in Roja.

Das Lager von Herrn Roegel lag am Ende eines langen Schienenstrangs, daneben verlief eine Straße gesäumt von einfachen Häusern. Der Zug hielt und auf Kommando mußten die Gefangenen ihre Kochgeschirre hinauswerfen - als Geschenk für die Bevölkerung. Essen gab es von da an nur noch aus leeren Konservendosen. Die ruhrkranken und halb verdursteten Gefangenen tranken das Wasser aus den Regenpfützen der Straße. Die Kolonne marschierte etwa 2 Kilometer auf einer Straße, an der einige Häuser standen. Nach dem Überqueren eines tiefen Grabens erreichten sie eine Siedlung von einstöckigen Arbeiterwohnungen, die offenbar noch nicht bewohnt worden waren. Alles schien neu und ungebraucht zu sein, auch die dort eingebauten Küchenherde. Die Siedlung wurde dann zum Gefangenenlager umfunktioniert. Später sah Herr Roegel in der Nähe des Lagers die Ruine einer Fabrik mit "Hochbauten". Hierbei handelte es sich unzweifelhaft um das zerstörte Krakftwerk. Auch der von Herrn Roegel geschilderte Arbeitseinsatz auf einer Kolchose deckt sich mit dem Bericht von Herrn Maier. Interessant ist das Detail, daß sich in der Baracke von Herrn Roegel ausschließlich Elsässer befanden.

Herr Roegel verblieb ca. 3 Wochen in dem Arbeitslager und mußte in der Zeit an einer Beerdigung teilnehmen. Die Geschehnisse beschreibt er eindrucksvoll in einem Bericht. Demnach befand sich ca. 700 m vom Lager ein Friedhof. Um dorthin zu gelangen, mußte man einen tiefen Graben überqueren.

[Quellen: G. Maier: Meine Erinnerungen über den Wechsel aus dem Spezialhospital 6031 Roja zum "Kraftwerkslager" 280/18 in der Ukraine, Rußland, 1945. Manuskript 2009 (pdf-Format); Korrespondenz mit Herrn Maier im Frühjahr 2009]; Alfons Heising, Henny Heising: Geschichten 1928-48, Selbstverlag, Kleinbarkau 1977; E. Roegel: Gefangenengräber. Erinnerungen an meine Kriegsgefangenschaft. Auszug und Übersetzung 2016 (pdf-Format); Korrespondenz mit Herrn Roegel im Frühjahr 2016.

Informationen zu einem weiteren in Roja befindlichen Arbeitslager erhielt ich durch einen Herrn, den ich durch die Vermittlung seiner Tochter kennengelernt hatte. Diese war, ebenso wie der Sohn von Herrn Maier, auf meine Webseite gestoßen. Ihr Vater, Herr Dolsek, Jahrgang 1924, war immerhin vier Jahre im Lager 280/16 in Roja interniert. Er kann sich noch hervorragend an seine Zeit dort erinnern und hat sie erstaunlicherweise in gar nicht schlechter Erinnerung. Herr Dolsek wurde ebenfalls im August 1944 in Rumänien gefangengenommen und über Uman, vermutlich im Sommer 1945, mit ca. 1000 Mann nach Roja gebracht. Dort mußte er erst kurze Zeit in dem von den Gefangenen als "Kohlelager" betiteltem Lager unter schlechten Bedingungen arbeiten. Danach ging es in das ca. 250 m entfernte Lager 280/16. Dies mußte erst aufgebaut werden, es befanden sich an der Stelle wohl nur Baracken ohne Fenster und sonstige Einrichtung. Später wurde dort eine große Theatergruppe aufgebaut, die Lagerinsassen genossen zahlreiche Privilegien und es ging ihnen vergleichsweise sehr gut. Hauptbeschäftigung war augenscheinlich das Einstudieren von neuen Theaterstücken. Aus der Zeit existieren erstaunlicherweise noch eine Reihe von Photographien. Aus dem Lager wurden wohl noch mehr geschmuggelt, gingen aber leider in der ehemaligen DDR verloren. Auf einigen Bildern sieht man Szenen von Theateraufführungen aber es gibt auch ein Gruppenbild mit braungebrannten, gutgenährten Männern in weißen Zweireihern mit schwarzen Revers. Diese Anzüge waren laut Herrn Dolsek selbstgenäht. Das Photo vermittelt den Eindruck eines Betriebsausfluges auf einem Ausflugsdampfer und keinesfalls von Kriegsgefangenen in der Ost-Ukraine.

Mir ist nicht bekannt, warum die Insassen des Lagers ein solches extrem privilegiertes Leben führen konnten.

Offenbar befand sich das Lager am westlichen Ende des heutigen Stausees, der in dieser Form wohl noch nicht bestand. Dort wurde ein in Hindenburg (Deutschland) demontiertes Kohlekraftwerk von den etwa 200 Männern wiederaufgebaut. Auch ein kleiner See zur Kühlung der Anlage wurde angelegt. Herrn Dolseks Aussage nach befand sich das sog. Kohlelager am Ende der Schienen. Möglicherweise ist es mit Lager 18 identisch und befand sich in etwa dort, wo ich an den Gleisen südlich des Sees gestanden hatte.

Von einem Hospitallager war Herrn Dolsek nichts bekannt. Wohl ging die Theatergruppe regelrecht auf Tournee durch verschiedene Arbeitslager. In seinem Lager 280/16 befand sich ein eigenes kleines Lazarett. Auch mit dem Begriff "Sowchose Schachtar" konnte der nichts anfangen. Seiner Aussage nach gab es keinerlei Ansiedlungen im Umkreis, erst die Gefangenen seines Lager hätten in der Gegend eine neue Häusersiedlung namens Novi Doma erstellt. Auch von Kriegsgefangenenfriedhöfen war Herrn Dolsek nichts bekannt. Im Lager 280/16 war die Versorgungslage so gut, daß niemand verstarb. Einmal hätte ihn der russische Major seines Lagers allerdings zu einem russisches Friedhof in Roja mitgenommen. Dieser sei aber nicht für Gefangene gewesen.

[Quelle: Korrespondenz und Telefonate mit Herrn Dolsek im Frühjahr 2007]

Zusammenfassende Informationen zu den Lagern in Roja


Aussagen Dr. Zoller, deutscher Lagerarzt von 6031 (1953, 1955):
  • 6031 lag 2,5-3 Km von der Bahnstation Roja an der Bahnstrecke
  • Lager 280/18 lag 2 (3-4) Km vom Hospital 6031 beim Ort Kurachogress, wo ein Dampfkraftwerk erstellt wurde

Aussage Herr Dermeiner 2005:
  • Hospital 6031 befand sich südlich des Sees an den Güterschienen

Bericht Herr Maier 2009:
  • Hospital 6031 befand sich einige Fahr-Minuten von Bahnstation Roja entfernt. Man konnte die Eisenbahn hören
  • Lager 280/18 war ca. 15 Geh-Minuten vom Dampfkraftwerk entfernt

Aussagen Herrn Dolsek 2007:
  • Lager 280/16 lag ca. 200 m nördlich des E-Werkes direkt am See. Von 280/16 konnte man gerade noch Lager 280/18 sehen (Entfernung ca. 2 km). Das lag am Ende der Schienen

Buch von Alfons Heising 1977
  • Lager 280/18 lag westlich vom E-Werk.

Erinnerungen von Emile Roegel 2016
  • Lager (vermutlich 280/18) lag ca. 2 km vom Ende des Eisenbahnstranges. Es waren neue einstöckige Arbeiterwohnungen.
  • Eine Krankenabteilung war innerhalb des Lagers
  • In der Nähe lag die Ruine einer großen Fabrik
  • Ein Friedhof befand sich ca. 700 m vom Lager jenseits eines tiefen Grabens

Aussage ukrainischer Zeitzeuge 2003:
  • Lager 6031 befand sich im Zentrum Rojas an der Stelle des jetzigen Einkaufzentrums
  • Tote wurde südlich davon in den heutigen Kleingärten beerdigt

Aussage ukrainischer Zeitzeugen 2007:
  • Lager 6031 befand sich im Zentrum Rojas an der Stelle des jetzigen Einkaufzentrums/Restaurants
  • Tote wurde südlich davon in den heutigen Kleingärten beerdigt

Auf Video aufgezeichnete Aussagen ukrainischer Zeitzeugen 2007:
  • Lager 6031 entstand an der Stelle, wo sich bis 1944 ein Lazarett der Roten Armee befand
  • Tote wurden hinter einem Berg beerdigt. Von dort aus war ein Turm zu sehen. Über den Gräbern wurde später ein Weinberg angelegt

Lagerbuch von 6031 von 1950:
  • Friedhof befindet sich 80 m südöstlich der Siedlung Oktjabrskij. Südlich davon geht es zur Sowchose Schachtar, nördlich zur Stadt Kurachovgres

Kriegsgefangenenakte meines Großvaters 1945:
  • Friedhof befindet sich 700 m vom Hospital 6031 hinter dem Einfanggraben der Sowchose Schachtar 200 m südwestlich der "Östlichen Siedlung"

Nun stellen sich eine Reihe von Fragen: die Stelle in den Gärten, wo ich 2005 und 2007 war, ist fast genau 700 m vom heutigen Supermarkt entfernt, aber die Straßenführung im Vergleich zur Friedhofsskizze aus dem Lagerbuch ist unterschiedlich. Nun stammt die Friedhofsskizze vom Hospital aber von 1950, das Lager wurde bereits 1945 geschlossen. Wieso gab es diese Zeitverzögerung? Auf der anderen Seite konnte man von der 2007 besichtigten Stelle auch den von der einen Zeitzeugin beschriebenen Turm sehen.
Wo lag die "östliche Siedlung"? Ist dies der als erstes entstandene Siedlungsbereich um die Bahnstation Roja? Oder der in der Karte von 1943 neu entstandene Siedlungskomplex an der Einmündung der ebenfalls neu angelegten Straße, die nach Südwesten führt? Ein tiefer Geländeeinschnitt trennt den Alt-Siedlungsbereich nahe der Bahnstation Roja von dem Neu-Siedlungsbereich in der Nähe des Kraftwerks.
Mit ziemlicher Sicherheit kann ich feststellen, daß sich das Hospital nicht an den Gleisanlagen befunden hat. Das muß ein Arbeitslager gewesen sein.

Eine endgültige Klärung bringt vermutlich nur die Einsicht des in Moskau liegenden Lagerbuches.


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Rußland - Vom Tschir zum Dnjepr, Januar - November 1943
Rußland und Rumänien - Vom Dnjepr zum Dnjestr, Oktober 1943 - Mai 1944
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Kriegsgefangenschaft Oktober 1944 - April 1945: das Spezialhospital 6031 Roja