Insgesamt war ich mittlerweile zwei Mal in Donezk: im Juli 2005 und im November 2007. Der unten stehende Teil deckt die Reise 2005 ab. Einen Bericht zur Reise 2007 findet man hier.
Im Juli 2005 unternahm ich eine sehr ungewöhnliche Reise, die einen ebenfalls ungewöhnlichen und sehr langen Vorlauf hatte. Vor einigen Jahren, nach der Öffnung des entsprechenden Moskauer Archivs, hatte ich erfahren, daß mein Großvater im April 1945 in einem Kriegsgefangenenlager in der Ukraine (gesprochen: Ukra-ine) verstorben war. Bislang war meine Mutter davon ausgegangen, daß ihr Vater seit einer Kesselschlacht in Rumänien im August 1944 vermißt war. Nunmehr hatte ich Gewißheit: er war in der Nähe des Schwerindustriezentrums Donezk (gesprochen: Donjezk), damals noch Stalino, in einem Lager verstorben. Die Angaben, die ich über den internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes erhielt, waren interpretierbar, exakt war aber immerhin Lagername und -nummer. Somit war in mir seit Jahren die Idee gereift, einmal nach Donezk zu fahren und zu versuchen herauszufinden, wo mein Großvater gestorben war. Schriftliche Anfragen durch eine russische Freundin nach Donezk waren nicht beantwortet worden, alleine dorthin zu reisen, erschien mir zu riskant. Von Gruppenreisen war mir lange nichts bekannt. Schließlich erfuhr ich im Frühjahr 2005, daß im Sommer des gleichen Jahres der "Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge" (Kassel) eine Gruppenreise nach Donezk und Umgebung veranstalten würde; dabei sollte es auch die Möglichkeit zu privaten Abstechern geben. Trotz des reichlich hohen Preises meldete ich mich für die einwöchige Tour an. Bis vor zwei Wochen vor dem Reisetermin stand wegen mangelnden Anmeldungen noch nicht fest, ob die Reise stattfände. Kaum hatten wir dann die definitive Reisezusage, wurde der Reisetermin einfach um einen Tag vorverlegt - die Fluggesellschaft Ukraine International Airlines hatte einfach den Zubringerflug Kiew - Donezk gestrichen. Das fing ja gut an!
Durch die Vorverlegung war ich leider gezwungen, am Abreisetag vormittags noch zu arbeiten, zum Bahnhof zu sprinten, den Zug - übrigens den 300-Km-schnellen ICE - nach Frankfurt-Flughafen zu erwischen, um dort meine Reisegruppe zu treffen. Um 20.15 Uhr starteten wir mit der ausgemusterten Lufthansa Boeing 737 der Ukraine International Airlines und erreichten um 23.30 Uhr Kiew Boryspil Airport. Wegen der Zeitverschiebung um eine Stunde hatten wir also nur gut 2 Stunden Flugzeit benötigt. Die Einreiseformalitäten waren schnell erledigt und ein Bus erwartete uns, um uns zum direkt am Flughafen gelegenen 3*** - Hotel Boryspil zu bringen. Dieses war wegen der Vorverlegung des Fluges offenbar in aller Eile gebucht worden und strahlte noch sehr den Charme der alten UdSSR aus. Im Foyer stand ein Röntgengerät, durch welches wir alles unser Gepäck, was mit aufs Zimmer sollte, schieben mußten. Die Zimmerschlüssel erhielten wir von den Damen, die die einzelnen Etagen bewachten. Diese waren schon im Halbschlaf gewesen und über den Trubel durch unsere Gruppe zu der späten Stunde gar nicht erbaut. Mein kleines Einzelzimmer war durch die Tageshitze von sicherlich 30 Grad enorm aufgeheizt, auch der Ventilator und das Öffnen der Balkontür brachten kaum Abkühlung. Zu meinem Entsetzen befand sich im Bad ein geschlängeltes Wasserrohr, durch welches offenbar das Heißwasser floß. Die Leitung war so konzipiert, daß man darüber Handtücher trocknen konnte. Keine schlechte Lösung für den Winter, nur heizte das nicht abzustellenden Rohr die Zimmer immer wieder auf. Bei geöffneter Balkontür konnte man wegen des permanenten Fluglärms und der Mücken nicht schlafen, also mußte ich mich den Saunatemperaturen aussetzen. Etwa eine halbe Stunde nach dem Einchecken in das Zimmer klopfte es dann auch noch an meiner Zimmertür. Ängstlich öffnete ich. Da es keinen Spion in der Tür gab, konnte ich auch nicht sehen, wer davor stand. Es waren Hotelangestellte, die Mineralwasserflaschen verteilten! Kein Wunder, das Wasser aus dem Wasserkran war so stark gechlort, daß man damit Wäsche hätte entfärben können.
Es war sowieso eine kurze Nacht. Am nächsten Morgen hieß es um 5.30 Uhr aufstehen und ein recht karges Frühstück zu uns nehmen. Als uns der Bus zum Flughafen bringen wollte, stellten wir fest, daß zwei Leute fehlten. Der Reiseleiter hatte vergessen, auf die Zeitumstellung aufmerksam zu machen. Im Affenzahn ging es dann vom internationalen Flughafen quer durch Kiew zum nationalen Flughafen, sicherlich eine Strecke von 20 Km. Die hervorragend ausgebaute sechsspurige Autobahn nach deutschem Standard beeindruckte mich. Vorbei ging es an alten Plattenbausiedlungen und neuen Hochhäusern, die wie amerikanische Condominiums aussahen. Dann überquerten wir den enorm beiten Dnepr und sahen die gigantische Figur der "Mutter Heimat" - das angeblich größte Denkmal der Erde. In der Nähe des Stadtzentrums waren die Häuser deutlich älter und in schlechterem Zustand, dies traf auch auf die Straßen zu. Gefahren wurde ebenso rasant wie in Deutschland. Auffällig waren die vielen neuen westlichen Autos. Die Ladas und Wolgas waren eindeutig in der Unterzahl.
Endlich erreichten wir den nationalen Flughafen, ein unscheinbares, recht kleines Gebäude. Nun hatten wir auch die Möglichkeit, in die einheimische Währung Griwna umzutauschen. Der Kurs lag ca. bei 1 Euro = 6 UAH. Nach gut einer Stunde, in der es schon extrem warm wurde, landete unser Flugzeug, mit dem es weiter nach Donezk gehen sollte. Wir schauten uns alle an: mit der Kiste sollten wir fliegen? Lugansk Airlines setzte eine steinalte russische (Antonow?) Turboprop ein, deren Reifen keinerlei Profil mehr hatten und die einen verheerenden Eindruck machte. Ich überlegte allen Ernstes, die Reise an dieser Stelle abzubrechen. Innen war der Eindruck der Maschine genausowenig vertrauenserweckend wie außen: völlig durchgesessene, aus anderen Maschinen zusammengesuchte Sitze. Immerhin gab es Anschnallgurte. Gut zwei Stunden Flug standen uns in der lauten Kiste bevor. Glücklicherweise gab es bei strahlendem Sonnenschein keine Turbulenzen und wir landeten in Donezk. Ich machte drei Kreuze, als die Kiste auf dem Rollfeld zu stehen kam.
Das Gepäck war schnell in Empfang genommen und wir wühlten uns durch die Menge, die uns Taxifahrten anboten. Vor dem Flughafen bei großer Hitze von sicherlich 30 Grad war dann ein riesiger Empfang. Eine Menschenmenge hatte sich, bewaffnet mit orangefarbenen Fahnen und Transparenten, eingefunden, um die ukrainischen Präsidenten Viktor Yushchenko zu empfangen, der in Kürze erwartet wurde. Auch die Presse hatte sich in Positur gebracht. Wir hingeben wurden bestaunt wie die Marsmännchen: wo wir denn herkämen? Man tippte auf USA. Die Antwort "Deutschland" wurde mit ungläubigem Staunen aufgenommen. Donezk ist ganz offensichtlich touristisches Niemandsland, schoß es uns durch den Kopf. Vor dem Hotel wartete ein sehr neuer und guter Reisebus, der uns während der Reise begleiten sollte. Auch lernten wir unseren ukrainischen Reiseleiter und Übersetzer Alexander kennen, der aus Kiew angereist war.
Einen ersten Eindruck von der 1,2 Millionen Einwohner zählenden Metropole Donezk bekamen wir auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel. Donezk ist das Zentrum des Schwerindustriegebietes Donbass und verfügt über unzählige Schachtanlagen und die entsprechende Industrie. Von Oktober 1941 - September 1943 war die Stadt, die damals noch Stalino hieß, von der deutschen Wehrmacht besetzt und zerstört worden. Nur zwei Häuser blieben unzerstört und von ehemals 507.000 Einwohnern überlebten nur 175.000. Ein Großteil der in russische Kriegsgefangenschaft gelangten deutschen Soldaten wurde nach der Rückeroberung der Gebiete nach Donbass gebracht, um Aufbauarbeit zu leisten bzw. um im ebenfalls zerstörten Bergbau eingesetzt zu werden.
Endlich und völlig abgekämpft erreichten wir unser Hotel, das 3-Sterne "Central" an der Artema Straße wirklich direkt im Zentrum gelegen. Zu unserem großen Ärger waren aber noch nicht alle Zimmer fertig, so daß wir über 1 Stunde durchgeschwitzt und groggy die Zeit totschlagen mußten. Das Hotel selbst machte einen vernünftigen Eindruck und mein Zimmer lag zum Glück nach Osten und hinten heraus. Nach einer sehr knappen Pause in den Zimmern traf sich die gesamte Gruppe von gut 20 Leuten aller Altersgruppen im kleinen Vorgarten des Hotels zur Lagebesprechung. Nun lernten wir auch zwei Personen kennen, die später ungeheuer wichtig für uns werden sollten: Herrn Anatolij Dermeiner und seinen Mitarbeiter Viktor Andenok. Herr Dermeiner hat vor einigen Jahren eine Firma gegründet, die sich auf die Erforschung von deutschen und russischen Kriegsgräbern in der Region spezialisiert hat. Er arbeitet in enger Kooperation mit dem Volksbund und war auf diesem Wege zu uns gestoßen. Ich hatte bei der Buchung der Reise bereits organisiert, daß ich mich für 2 Tage von der Gruppe entfernen würde, um das Grab meines Großvater zu suchen. Nun erfuhr ich, daß Anatolij und Viktor mich begleiten würden und daß sie auch neue Informationen hatten! Genaueres würde mir später mitgeteilt. Auch die anderen Gruppenteilnehmer, unter ihnen sogar noch 2 betagte ehemalige Kriegsteilnehmer, sprachen ihre Pläne durch. Leider erschien die ganze Planung völlig improvisiert. Das DER-Reisebüro in München, über welches die Reise gebucht worden war, hatte offenbar keine Ahnung von den Gegebenheiten vor Ort und Reiseteilnehmern Zusagen gemacht, die nicht einzuhalten waren. Die Emotionen kochten sehr hoch, als auf einmal bestimmte Reiseziele nicht mehr angesteuert werden sollten. Alexander schlug die Hände über dem Kopf zusammen und es wurde hin- und herdiskutiert, wie man die besonderen Wünsche aller Teilnehmer berücksichtigen könne. Ich war heilfroh, von vornherein auf 2 Tagen ohne die Gruppe bestanden zu haben, um genug Ruhe für meine Recherchen zu haben. Die Gruppe selbst sollte an den 2 Tagen die weite Strecke nach Charkow mit Übernachtung fahren.
Als endlich alles geklärt war, stand eine Stadtrundfahrt durch Donezk mit einer lokalen Stadtführerin an. Alexander mußte dolmetschen und häufig genug stiegen wir auch aus. Schnell war mir klar, daß die Artema Straße, an der unser Hotel lag, das Hauptzentrum der Stadt war. Donezk ist keine gewachsene, sondern ein geplante Stadt. 1869 durch den Engländer Hughes um Schachtanlagen und eine metallurgische Fabrik gegründet, ist der Stadtgrundriß im Zentrum geplant rechteckig. Von Norden nach Süden verläuft die Artema Straße sowie parallel einige andere Boulevards. Ein Verlaufen ist kaum möglich und hinzu kommt, daß sich auf der Ostseite des Stadtzentrums der Kalmius-Fluß und im Westen das Naherholungsgebiet Scherbakova-Zentralpark mit Wasserflächen erstreckt. Wir besichtigten jedenfalls als erstes den in unmittelbarer Nähe des Hotels liegenden, riesigen Leninplatz, den ich bereits durch die Ansicht der Webcam, die auf ihn gerichtet ist, kannte. Der Platz war mit Blumenrabatten liebevoll bepflanzt, überall befanden sich Bänke zum Ausruhen. Nicht umsonst ist Donezk als "Stadt der Rosen" bekannt. Vor der riesigen Leninstatue werden oft im Sommer Freiluftkonzerte abgehalten. Hinter dem Denkmal fand gerade eine politische Demonstration gegen den Präsidenten Yushchenko statt. Plakate, auf denen der Zar abgebildet war, wurden in die Höhe gehalten. Hier wurde mir erst richtig klar, wie zweigespalten die Ukraine ist: im Westen, im ehemals haburgischen Teil rund um L'vov (Lemberg), spricht man ukrainisch und ist pro-Yushchenko. Der östliche Teil, wo wir uns befanden, ist russisch geprägt und Yushchenko schlicht und einfach verhaßt. Ukrainisch und russisch sind übrigens so unterschiedlich wie niederländisch und deutsch, selbst einige der kyrillischen Buchstaben unterscheiden sich.
Weiter ging es zur Oper, einem der wenigen Gebäude, die den Krieg überstanden hatten mit daneben befindlicher goldenen Statue eines Künstlers und anschließendem Park, in dem auf die Besiedlungsgeschichte der Region durch die Scythen hingewiesen wurde. Nach einem weiteren Stück im Bus besichtigten wir die Kopie einer zaristischen Kanone, deren Original im Kreml in Moskau steht und einen Park mit moderner Kunst (Gorispolkomon). Überhaupt fielen die vielen Parks der Stadt ins Auge, die wunderschön und oft brandneu waren. In ihnen arbeiteten ältere Frauen zur Pflege - ein ungewohnter Anblick. Ungewöhnlich auch der Anblick des alten T 34 Panzers auf einem Podest, der der Verteidigung Donezk' gegen die Deutschen gedient hatte - davor an der Straße Reklame nach westlichem Standard. Auch hier, wie in Kiew, bestimmten überwiegend sehr neue und z.T. sehr große westliche Autos das Straßenbild. Weil wir uns beschwerten, daß wir bei der Hitze endlich Getränke bräuchten, hielten wir an einem ultramodernen Supermarkt, der keine Wünsche offenließ. Leider hatten wir nicht viel Zeit, sahen aber, daß das Preisniveau erheblich unter dem in Deutschland lag. Dann besuchten wir noch ein riesiges Denkmal zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, welches etwas außerhalb der Innenstadt an der Donezkoe Schosse lag. Wie auch in Rußland üblich, stießen wir auf diverse Hochzeitsgesellschaften, die an dem Denkmal Blumen niedergelegt hatten. Die Bräute trugen alle aufwendige, weiße Brautkleider und auch die Ehemänner und Begleiter hatten sich in Schale geworfen. Vom Sockel des riesigen Denkmals hatten wir einen guten Überblick über Donezk und Umgebung. Überall fielen die Halden der Bergschächte ins Auge und auch einen Teil des Kalmiusflußes konnten wir sehen. Auffällig war das in unmittelbarer Nähe des Denkmals neu gebaute ultramoderne Tennisresort Viktoria.