Uspenska, Donezk

Dienstag sollte unser letzter Tag in Donezk sein. Um 8 Uhr ging es wieder los mit dem Bus, diesmal zum an der russischen Grenze liegenden Friedhof Uspenska. Die 93 Km lange Fahrt war abenteuerlich, führte heraus aus dem Industriegebiet in eine rein agrarische Landschaft. Kleine Dörfchen mit badenden Enten und Gänsen, grasenden Kühen und Ziegen bestimmten das Bild, das sich so stark von dem unterschied, was wir bislang gesehen hatten. Schließlich erreichten wir die Grenzanlage. Seit Yushchenko Präsident ist, benötigen Russen und Ukrainer Visa zum Besuch des anderen Landes. Politisch gewollt, vor Ort aber Schwachsinn. Eine Grenze war für uns zwischen den gigantischen Sonnenblumenfeldern nicht erkennbar. Ein paar Grenzer spielten sich auf, wir sollten bloß nicht in Richtung Rußlands photographieren!

Der nicht vom Volksbund, sondern von einer Kameradschaft betreute Friedhof beherbergt an die 1.000 Soldaten der SS-Division Viking, die auf dem Rückzug im September 1943 dort ihr Leben ließen. Rund um den Friedhof befinden sich Felder und die Kameradschaft hatte schon vor über 10 Jahren mit der Kolchose der Umgebung ein Abkommen getroffen, daß der Bereich nicht beackert wurde.
Die Fahrt zurück verlief wieder für ukrainische Verhältnisse recht zügig, nur in Donezk standen wir im Stau.

Dann hatten wir den Nachmittag endlich einmal zur freien Verfügung. Da ich am Vortage ja bereits einen Teil der Stadt kennengelernt hatte, wollte ich nun auch andere Bereiche erkunden. Bei etwa 30 Grad machte ich mich auf zum westlich der Stadt gelegenen Scherbakova Zentral Park. Erst einmal ging es in das Gastronoma Moskva an der Artema Straße. Das war schon ein lustiges Kaufhaus. Alle Artikel waren hinter Theken zu haben und von Plastiksachen über Ost und Eis gab es eine große Auswahl, um nicht zu sagen ein Sammelsurium. An dem zum Park führenden Prospekt 25-letna RKKA verkauften zu meiner Verwunderung zahlreiche Händler (selbstgemalte?) Bilder, meist Schinken aus Öl leider so gar nicht nach meinem Geschmack. Aber auch hier wurde man in Ruhe gelassen und nicht angesprochen. Direkt gegenüber sah ich dann auf einmal das Bundesdeutsche Wappen mit der Aufschrift "Honorarkonsul". Donnerwetter, den gab es hier in Donezk!
Durch eine Unterführung erreichte ich dann den Park und die über den See führende Brücke. Einige Jugendliche machten sich einen Spaß, auf die Laternen der Brücke zu klettern und von dort in das trübe Wasser zu springen. Als sie sahen, daß ich ihnen zuschaute, drehten sie richtig auf und riefen mir etwas auf russisch zu. Meine Standardantwort auf Russisch "ich verstehe nicht, ich bin aus Deutschland" quittierten sie mit der Frage "English?" und so konnten wir uns leidlich auf Englisch verständigen. Am Ufer des Sees herrschte Strandbadatmosphäre bei dem schönen Wetter. An der Brücke verkauften Frauen Sonnenblumenkerne und ähnliches wohl aus den heimischen Gärten.

Weiter ging ich zurück zum Puschkin Boulevard, dessen unteres Ende gerade fertiggestellt wurde. Wieder waren Frauen im Arbeitseinsatz. Man hatte ihnen einfach einen Berg Mutterboden hingeschüttet, den sie nun Stück für Stück auf einen Sack schaufelten und zu zweit dann wegtrugen und verteilten. In der Hitze eine schwere Arbeit! Irgendwann bog ich ab nach links zur Universitätsstraße. Ich wollte mir die Uni doch mal von innen anschauen. Das Hauptgebäude machte einen alten und nicht sehr gepflegten Eindruck, der Innenhof hingegen war frisch erneuert und wunderschön. Als ich durch eines der geöffneten Fenster sah, war ich mehr als erstaunt. Dieser Bereich war nagelneu und nach westlichem Standard renoviert worden und ich las etwas von "European Program". Offenbar waren hier Fördermittel geflossen.
An der Universitätsstraße wurde ich dann auch Zeuge von Malerarbeiten à la Ukraine. Ich traute meinen Augen nicht. An der Außenfassade eines Hauses hatten sich drei Maler auf abenteuerlichen Konstruktionen vom Dach abgeseilt. Es waren Bretter in L-Form. Unten stand man, an dem vertikalen Teil waren die Farbeimer festgenagelt. Die Maler hielten sich mit einer Hand an dem vertikalen Brett fest und versuchten mit der anderen Hand, die Wand zu streichen. Sie waren in keiner Weise irgendwie gesichert und die Holzkonstruktionen sahen sehr fragil aus. Ein Maler brachte es fertig, sich immer mit einer Hand festzuhalten, sich hinzuhocken und das Holzgestell zum Schwingen zu bringen. Immer, wenn es zur Wand schwang, konnte er streichen, mußte dann pausieren, wenn er sich von der Wand wegbewegte. Es war haarsträubend anzuschauen! Ein Haus weiter sah ich einige Frauen bei Mauererarbeiten an einem Haus. Für mich ebenfalls sehr ungewöhnlich!

Ich ging die Straße weiter nach Norden und machte dann auf einem Mäuerchen im Schatten Pause, um den Stadtplan zu studieren. Da kam ein älterer Donezker auf mich zu und sprach mich auf russisch an. Er meinte wohl, ich habe mich verlaufen. Es entspann sich eine schwierige Konversation, in der er seine letzten Worte Deutsch, die er vor 50 Jahren oder so auf der Schule gelernt hatte, reaktivierte. Jedenfalls ließ Nikolai, wie er sich vorstellte, es sich nicht nehmen, mich bis auf den Markt, den ich als Ziel angegeben hatte, zu begleiten. Er zeigte mir den ganzen Markt samt der Markhalle ausführlichst und ich kaufte etwas Obst, wo er mich bei der Verkäuferin scheinbar als deutsche Bekannte vorstellte. Dann hätte er mir auch noch den Rest Donezk' gezeigt, wenn ich ihn nicht gebremst hätte. Ich war von der Freundlichkeit schier überwältigt. Da ich viel zu viele Aprikosen gekauft hatte zum Spottpreis von 2 Griwna das halbe Kilo, schenkte ich einer armen alten Frau, die auf dem Markt um Geld bettelte, den Beutel. Diese konnte es gar nicht begreifen, daß ihr jemand so viel gab und schaute mich ungläubig an. Als ich ihr klar machte, ich wolle ihr das Obst schenken, küßte sie mir die Hände von oben bis unten ab vor Glück. Selten bin ich so beschämt in meinem Leben gewesen. Normalerweise gebe ich Bettlern nichts, in der Ukraine, wie auch in Rußland, sind allerdings die Rentner beim Zusammenbruch des alten Systems auf der Strecke geblieben und müssen sich ihr Essen tatsächlich erbetteln.

Leider hatte ich nicht mehr Zeit und mußte wieder zurück zum Hotel. Dort traf ich auch wieder auf Anatolij, der mit einigen Mitreisenden eine Tour zu einer Schachtanlage gemacht hatte. Der ehemalige Kriegsgefangene hatte doch tatsächlich das Bergwerk wiedergefunden, in dem er vor 60 Jahren gearbeitet hatte und nach dem Besuch des Büros dort - es wird noch immer Kohle gefördert - hatte man ihm sogar seine alte Personalakte wieder herausgesucht. Es muß überwältigend gewesen sein und alle waren noch ergriffen von dem Moment.

Mit zwei Bekannten machte ich mich nach dem Essen noch auf zum Puschkin Boulevard. Vorher hatten wir noch in dem Garten vor dem Hotel gesessen und den Autorennen der Einheimischen auf der Artema Straße zugeschaut. Da diese schnurgerade und gut asphaltiert ist, betreiben junge Männer abends dort gerne diesen "Sport". Bald darauf ertönten allerdings die Sirenen der Polizei, die dem Treiben Einhalt geboten. Für mich war es schon höchst merkwürdig, diese zu hören, denn es waren die gleichen wie in den USA. Schloß man die Augen, konnte man sich in einer amerikanischen Großstadt wähnen! Auf dem für den Verkehr geschlossenen Puschkin Boulevard hingegen herrschte schon eine schöne Stimmung. Fast alle Parkbänke waren belegt, oft auch von Müttern mit Kindern aber auch mit Paaren. Alle hatten was zu Trinken dabei, trotzdem wurde nicht randaliert oder auch nur Lärm gemacht. Es war schon eine richtige mediterrane Stimmung.

Kiew

Leider mußten wir Donezk bereits am nächsten Tag verlassen. Um 11.50 Uhr ging der Flug zurück wieder mit der berüchtigten Turboprop der Lugansk Airlines. Dieses Flugzeug war selbst für die einheimische Dame neben mir "extrem", wie sie sagte. Sie sprach recht gut Englisch und arbeitete bei einem amerikanischen "Mutter und Kind Projekt" in Kiew, kam aber ursprünglich aus Donezk. Es entspann sich ein lebhaftes Gespräch zwischen uns.
Die Zustände am Flughafen Kiew waren chaotisch. Der Bus fuhr sich fest und konnte erst weiterfahren, als einige unserer Mitreisenden ein anderes Auto an die Seite hoben. Leider war das Wetter in Kiew auch alles andere als schön. Es war viel kühler als in Donezk und regnete heftig. Trotzdem versuchte Alexander, der mit der Bahn über Nacht vorausgefahren war, immerhin ein 10 Stunden Trip, sofort eine Stadtrundfahrt. Ab und zu stiegen wir aus und bekamen so u.a. das Michaelskloster mit den goldenen Dächern und die Sophienkathedrale, das Denkmal Mutter Heimat am Dnepr und einen Aussichtspunkt hoch über der Stadt zu sehen. Leider war unsere mentale Aufnahmebereitschaft nach der anstrengenden Tour nicht mehr die beste. Ich erinnere mich an die vielen alten oder wiederaufgebauten Gebäude und die Größe der Stadt mit immerhin 2,6 Mio Einwohnern. Nach 18 Uhr waren wir dann endlich in unserem Hotel, dem "RUS", das zwar auch nur 3 Sterne hatte, aber erheblich besser war, als das Central in Donezk. Augenscheinlich fand gerade eine NATO-Tagung statt, denn das Hotel wimmelte nur so von Armeeangehörigen. Als ich die vielen Männer und Frauen in Uniform sah, mußte ich unwillkürlich daran denken, wie viele von ihnen möglicherweise so enden werden, wie wir es gesehen hatten...

Wir jedenfalls wurden dann zu einem typischen Folklorerestaurant gefahren, wo wir unsere Reise ausklingen ließen. Das Restaurant war in der Tat nett gemacht im Stil eines ländlichen ukrainischen Bauernhauses und es spielte eine Kapelle Volkslieder. Auf Kosten des Hauses wurde Wodka ausgeschenkt und die Stimmung stieg mächtig. Mit einigen anderen Leute der Gruppe ließen wir die Reise dann an der Bar unseres Hotels ausklingen. Typischerweise gab es dort kein einheimisches, sondern nur importiertes Bier. Völlig unverständlich, denn das einheimische Bier schmeckt ausgezeichnet. An der Bar und an den Tischen saßen auffällig viele junge Frauen, die die Zeit totschlugen. Es waren ganz offensichtlich Prostituierte, die auf Kundschaft warteten.

Die Nacht war wieder kurz. Um 4.45 Uhr hieß es Aufstehen und kurz darauf ab zum Flughafen. Ich hatte Glück und bekam eine Dreier-Sitzreihe für mich alleine. Als wir meinten, der Flug sei nun endlich zu Ende, das Flugzeug war bereits bis auf ca. 3 Meter über der Landebahn in Frankfurt, wurde es sehr ungemütlich. Der Pilot flog ca. 1 Km in der geringen Höhe parallel zur Landebahn, bekam aber augenscheinlich den Schub nicht weg. Als das Ende der Bahn in Sicht war - startete er durch. Das hatte ich ja noch nie erlebt! Steil ging es wieder hoch und im weiten Bogen um Frankfurt herum. Der Tower hatte wohl Mitleid mit uns und ließ uns sofort wieder einen zweiten Anlauf nehmen, was dann auch klappte. Auf die Einlage hätte ich sehr gut verzichten können!

Fazit der Reise: Die Ostukraine ist offensichtlich touristisches Niemandsland. Überall wurden wir bestaunt. Keines meiner zahlreichen Vorurteile hat sich auch nur ansatzweise bestätigt. Mit Sicherheit gibt es Machenschaften der Mafia, davon bekommt man als Tourist aber nichts mit. Nicht einmal bin ich oder ein Mitreisender negativ behelligt worden, es ist angenehm, wie zurückhaltend die Händler sind. Die Menschen, denen wir begegneten, waren alle von einer ausgesuchten Freundlichkeit und Herzlichkeit. Nirgendwo sind wir auf irgendwelche Ressentiments gestoßen, weil wir Deutsche waren - eher ganz im Gegenteil. Donezk und Umgebung ist ein ausgewiesenes Bergbau- und Schwerindustriegebiet. Trotzdem bemüht man sich überall, die Umgebung zu verschönern. Die Umweltprobleme, angefangen von der Luftverschmutzung über Altlasten und Industriebrachen, sind offensichtlich. Trotzdem gibt es eine Menge zu sehen. Die kleinen Dörfer sind pittoresk und man kommt sich vor, wie in einer Zeitmaschine. Kiew ist Boomtown, so ziemlich alle westlichen Firmen sind am Start und ich glaube nicht, daß ich dort alleine abends durch die 2,6 Millionen Metropole gegangen wäre.
Unsere Reise war alles andere als gut organisiert und letztlich wurde permanent vor Ort improvisiert. Wir mußten immer morgens sehr früh aufstehen und kamen sehr spät zurück. Wir konnten glücklich sein, wenn uns unterwegs die Möglichkeit eingeräumt wurde, in aller Eile etwas zu trinken zu kaufen. Von einer Mittagsrast war ganz zu schweigen. Hätte ich mich Zuhause nicht mit Bergen von Müsliriegeln eingedeckt, hätte ich nicht gewußt, wie ich das überstehen sollte. Andere Dinge wurden in Buschgruppen am Straßenrand erledigt. Informationen kamen gar nicht oder scheibchenweise auf Nachfrage. Die Fahrt war anstrengender als so manche meiner Geographieexkursionen während des Studiums und unter den Mitreisenden machte sich schnell wegen der Gegebenheiten eine "Wir halten das zusammen durch"-Stimmung breit.

Reisetips: Von einem innerukrainischen Flug kann ich nur abraten, es sei denn, man lebt nach dem Motto "no risk - no fun". Ich jedenfalls war bedient und würde auf alle Fälle versuchen, mit einer westeuropäischen Fluggesellschaft direkt nach Donezk zu fliegen. Als ausgesprochen hilfreich hat sich erwiesen, daß ich vor der Reise kyrillisch lesen und einige Floskeln sprechen gelernt hatte. Keine Beschilderung ist in lateinisch und man ist aufgeworfen, wenn man nichts lesen kann. Das Lernen der Buchstaben war viel einfacher als gedacht und ich stellte auf einmal fest, wie viele Worte aus dem Deutschen in das Russische übernommen worden waren, angefangen von "Apteka" bis hin zu "Potschtamt". Neuerdings übernimmt man auch viele Anglizismen, allerdings phonetisch, was sich dann "bisnes", "ofis" und "disein" liest. Die jungen Leute sprechen mittlerweile etwas Englisch und auch in Hotels kommt man mit Englisch weiter. Die Menschen auf der Straße sprechen aber nur Russisch und ggf. Ukrainisch. Wer etwas Polnisch kann, kann sich auch verständigen, da Polnisch mit dem Ukrainischen verwandt ist. So heißt es "tak" und nicht "da" für "ja". Die Straßen außerhalb der Stadt sind abenteuerlich. Man muß mindestens die doppelte bis dreifache Fahrzeit einkalkulieren, wie in Deutschland. Zudem gibt es kaum Straßenschilder, so daß man eine gute Karte braucht. Leider wurden auf dem Lande und in der Stadt nach der Unabhängigkeit viele russische Straßen in ukrainische umgenannt, so daß man auf Erstellungsdatum der Karte achten sollte. Mit dem Essen hatte ich als Vegetarierin Probleme, da es doch recht fleischlastig ist. Das Wasser in den Hotels ist oft extrem gechlort und sollte auf keinen Fall getrunken werden! Bei bedecktem Himmel ist die Luft sehr schlecht und man riecht die Industrie förmlich. Von Kriminalität habe ich nichts mitbekommen und wenn man nicht gerade seine Rolex spazieren trägt, ist man offensichtlich auf der sicheren Seite. Die beste Reisezeit ist der Sommer, wo es dann sehr warm werden kann (im Juli - August sind Temperaturen über 30 Grad normal).

Tips zur Erforschung von Kriegsgräbern: Anatolij Dermeiner und seine Mitarbeiter haben mich bestens betreut und sind Fachleute auf dem Gebiet der Erforschung von Kriegs- und Internierungslagern sowie den entsprechenden Friedhöfen für das Donezker Gebiet als auch für die ganze Ostukraine. Sie können auch von Deutschland aus kontaktiert werden oder man trifft sich vor Ort in Donezk, wobei die Firma die gesamte Planung übernimmt. Weitere Informationen erhält man auf der deutschsprachigen Webseite http://www.ost-west-ua.narod.ru

Nachtrag Oktober 2006: Leider kann ich nach gut einem Jahr weiterer Recherche die oben geschriebene Empfehlung nicht mehr so stehen lassen. Ich habe berechtigte Zweifel an der Integrität der Personen und der Richtigkeit der mir präsentierten Ergebnisse. Meine eigenen, weiterführenden Recherchen sind hier nachlesbar.