Irgendwann erreichten wir die Stadt Artjomowsk, bekannt als Sitz der großen Sektkellerei, in der der auch nach Deutschland exportierte Krimsekt hergestellt wird. Dieser stammt nämlich entgegen der landläufigen Meinung nicht von der Krim! Wir passierten eine Bronzestatue, von der Natascha erzählte, daß ihr Großvater dafür Porträt gestanden habe. Irgendwo am Stadtrand hielten wir an einem der schon beschriebenen ukrainischen Häuschen. Vor dem Betreten hieß es nach ukrainischer Sitte die Schuhe auszuziehen. Hier erwartete uns Nataschas achtzigjährige Großmutter, die uns ihr Leid über ihren vom Nachbarshund angefallenen Hund klagte. Kurze Zeit später stießen auch Nataschas Eltern und Schwester zu uns. Natürlich wurden wir wieder zum Essen eingeladen. Jegor und Natascha erzählten von unseren Erlebnissen vom vorherigen und heutigen Tage. Im Schlafzimmer der alten Dame fanden sich reihenweise englische Taschenbücher und auch das eine oder andere deutsche Buch. Das Rätsels Lösung: ihr anderer Sohn war nach New York ausgewandert und Nataschas Vater hatte seinen Bruder dort vor circa 10 Jahren sogar schon einmal besucht.
Nach diesem ausgesprochen netten Aufenthalt wurden wir ausgiebig verabschiedet und machten uns auf unseren weiteren Heimweg nach Donezk. Hierbei durchquerten wir die große Industriestadt Gorlowka, die mir noch von 2005 in Erinnerung war, weil wir dort einen deutschen Soldatenfriedhof besucht hatten. Erst spätabends erreichten wir das hell erleuchtete Donezk. Im Hotel herrschte an diesem Samstagabend Partystimmung. Eine ukrainische Hochzeitsgesellschaft hatte den Speisesaal gemietet und veranstaltete ähnlich alberne Spielchen, wie sie auch in Deutschland gemacht werden.
Am nächsten Tag stand eine Besichtigung von Jegor und Nataschas neuer Wohnung in der Nähe des alten Stadions auf dem Plan, die ich bislang nur von E-Mail-Photos im Rohbau kannte. Die beiden haben diese Wohnung in einem aus dem Jahre 1954 stammenden Eckhaus gekauft und sind nach zweijährigem Renovierungsarbeiten vor einigen Wochen eingezogen. Noch gibt es eine Menge zu tun aber der schon fertiggestellte Teil ist wunderschön geworden. Als Küchentisch diente in der noch nicht renovierten Küche z.Zt. ein noch aus deutscher Besatzungszeit stammender Klapptisch, den Nataschas Oma irgendwo aufgetrieben hatte! Selbst den dazugehörigen Stuhl gab es noch.
Nach einem kleinen Imbiß machten wir uns auf den Weg zum historischen Museum Donezks. Hierbei durchquerten wir eines der typischen Plattenbauviertel. Dieses stammte nicht aus den siebziger Jahren, sondern die Häuser waren älter und wurden Chruschtschowka genannt. Jegors Aussage nach waren die Wohnungen in diesen Gebäuden oft nur 40 m² groß. Kennzeichnend waren auch hier die verkleideten Balkone und die oberirdisch verlaufenden, unisolierten Heizungsleitungen. Positiv zu vermerken ist, daß der Gebäudeabstand recht groß ist und sich dazwischen zahlreiche Bäume und Grünanlagen finden.
Ein Stückchen weiter erreichten wir das historische Museum, was viel größer als erwartet war. Es verfügt übrigens über eine sehr gute Webseite, auf der zahlreiche Exponate abgebildet sind.
Auf dem Vorplatz des Museums beeindruckte eine Sammlung von figuralen Steinstelen, die im Gebiet Donezk gefunden worden waren. Kontrapunkt dazu bildeten ein Panzer und ein Geschütz aus dem Zweiten Weltkrieg. Im Foyer des Museums fand sich eine interessante Sammlung historischer Photos von Donezk. Für mich auffällig war der Fakt, daß die Photos die Zeitspanne von 1938 bis 1948 komplett aussparten. Die ersten Abteilungen waren der Vor- und Frühgeschichte der Region gewidmet, inklusive eines riesigen Mammutskeletts. Eine ethnographische Abteilung stellte die Geschichte der nichtrussischen Einwanderer in der Region da, dieses waren vornehmlich Deutsche und Griechen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siedelten Deutsche in sogenannten Kolonien vor allem an der Küste des Asowschen Meeres. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden solche Kolonien auch in anderen Bezirken des Donezbeckens. 1941, dem Jahr der vollständigen Deportation der deutschen Bevölkerung, existierten mehr als 343 deutsche Siedlungen auf Donezker Boden. Interessanterweise verkauft das Museum eine Postkartensammlung zur Geschichte der Deutschen in der Region mit einem ukrainischen und deutschen Begleittext. In letzterem wird erstaunlicherweise der bedeutende Beitrag der deutschen Siedler zur wirtschaftlichen und kulturellen Nutzbarmachung der Region hervorgehoben.
Breiten Raum nahm im Museum verständlicherweise auch die Zeit der Stadtgründung und die nachfolgende Entwicklung von Bergbau und Industrie in der Region ein. Eindrucksvolle Exponate und Photos belegen die harte Arbeit der Bergleute unter Tage. Eine Abteilung im Museum widmete sich auch der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Leider lief uns hier bereits die Zeit weg und wir konnten uns die Exponate nicht in aller Ausführlichkeit anschauen. Nachgebaut war ein Partisanenunterstand, dessen Beschriftung auf die Partisanentätigkeit während der Zeit der deutschen Besatzung hinwies. Fernerhin waren einige Uniformen ausgestellt. Wenn ich erst richtig gesehen habe wurde die deutsche Besatzungszeit, die immerhin von Oktober 1941 bis September 1943 gedauert hatte, in einem dürftigen Schaukasten abgehandelt. Einzige Exponate waren ein alter 5-Reichsmarkschein sowie ein reproduzierter Strohüberschuh, wie ihn die Wehrmachtssoldaten gegen die Kälte trugen. Was mich interessiert hätte, Bilder aus der Besatzungszeit oder der direkt anschließenden Periode in der fast vollständig zerstörten Stadt, fehlten komplett. Gerne würde ich mich mit einem ukrainischen Historiker über die Beweggründe des Aussparens dieses Zeitabschnitts unterhalten.
Wir verließen das Museum und passierten die gigantische Baustelle des neuen Fußballstadions, welches anläßlich der im Jahre 2012 in Donezk auszutragenden Europameisterschaft gebaut wird. Sein Bau innerhalb einer riesigen Parkanlage hatte wohl einigen Unmut in der Donezker Bevölkerung hervorgerufen. Nunmehr wandten wir uns nach rechts und gingen wieder zurück in Richtung Artjoma Straße. Schon von weitem kann man die Bronzeplastik des Revolutionshelden Artjom sehen, der der Straße seinen Namen verliehen hat. In Sichtweite des Denkmals befindet sich die Replik der zaristischen Kanone aus Moskau.
Da es immer später wurde, mußten wir uns beeilen. Entlang ging es der Artjoma Straße, wobei sehr exklusive Geschäfte im Erdgeschoß auffielen. Im merkwürdigen Kontrast zu den teilweise mit Marmor verkleideten Schaufenstern standen die Obergeschosse der Häuser, die sich grau und marode präsentierten. Wir passierten ein riesiges Krankenhaus, davor die höchst amüsante Bronzeplastik eines Kranken, der seine Krücke durchbricht. Direkt anschließend befindet sich das Haus, in denen Jegor und Natascha ihre Wohnung gekauft haben. Das Erdgeschoß des Hauses wurde gerade renoviert und in wenigen Wochen soll ein italienisches Restaurant einziehen. Direkt daneben befand sich eine sehr moderne Konditorei, in der wir schmackhaften Kuchen kauften.
Kurz darauf wurde es wirklich Zeit und Jegor und Natascha brachten mich zum Flughafen, wo wir erst Probleme hatten, den Abflugbereich zu finden. Vorher machten wir noch einen Zwischenstop in der Bank des Shoppingcenters Donezk Citi, weil ich mich nicht darauf verlassen wollte, ob die Bank im Flughafen geöffnet habe. Völlig problemlos ohne Vorlage eines Passes wurden meine Griwna in Euro zurückgetauscht. Am Flughafen folgte eine ganz herzliche Verabschiedung vor der Sicherheitskontrolle und ich kann von ganzem Herzen sagen, daß ich meinem Großvater gesucht aber Freunde gefunden habe!
Sicherheitskontrolle und Einchecken gingen völlig problemlos. Die Lufthansa-Maschine war pünktlich gelandet und stand schon auf dem Rollfeld. Einzig negativ war - wie schon 2005 - der Besuch der Toiletten im Sicherheitsbereich, der ansonsten, inklusive eines modernen Duty Free Geschäftes, einen guten Eindruck machte. Der Toilettenraum hingegen sah aus wie aus einer anderen Ära: defekte Türen, nicht vorhandene Toilettenbrillen, keine Ablagen, dafür schmierige Fliesen. Nicht zu vergessen der in der Ukraine obligatorische Plastikpapierkorb neben der Kloschüssel. In diesen wird sämtliches Toilettenpapier geworfen, da offenbar die Kanalisation nicht in der Lage ist, dieses zu transportieren. Nicht allen Benutzern war offenbar diese Gepflogenheit geläufig... Mir ist schleierhaft, wie man auf einem internationalen Flughafen solche Toilettenanlagen unterhalten kann.
Für diese negative Erfahrung wurde ich durch meinen netten ukrainischen Sitznachbarn im Flugzeug entschädigt. Wir versuchten eine Konversation, wobei er genauso viel oder wenig Deutsch sprach wie ich russisch. Auf alle Fälle bekam ich heraus, daß er 61 Jahre alt war, aus Gorlowka stammte und nun seine in Hannover wohnende Tochter besuchen wollte. Höchst amüsant war es sein Gesicht zu betrachten, nachdem er bei der Stewardeß Wodka bestellt hatte. Diese schenkte ihm ein ziemlich kleines Schlückchen in den Plastikbecher. Auf meine Bemerkung hin, dies seien aber nicht "sto gram" (100 g, die geringste in Rußland übliche Ausschankmenge), mußte er lachen und kramte eine kleine im Duty Free Shop gekaufte Flasche Whisky hervor, die er im Laufe des dreistündigen Fluges fast völlig leerte. Ich konnte mich seinen Angeboten mitzutrinken, kaum erwehren.
Die Flugzeit ging schnell vorüber und wir landeten abends in München. Nachdem wir vom deutschen Zoll penibel gecheckt worden waren, mußte ich noch gut drei Stunden auf den Anschlußflug nach Hause warten. Dieser war zum Glück pünktlich, und genauso wie den Rückflug von Donezk komplett ausgebucht. Um 22.40 Uhr landeten wir sicher in auf unserem Heimatflughafen, wo ich zielsicher vom Zoll herausgesucht und interviewt wurde.
Fazit: Ich bin von der ukrainischen Gastfreundschaft und Freundlichkeit völlig überwältigt worden. Nicht nur Jegor und Natascha hatten sich extra für meinen Besuch Urlaub genommen, sondern auch die mir bis dahin völlig unbekannte Olga in Kurachowo. Diese hatte buchstäblich "Himmel und Hölle" in Bewegung gesetzt, um mir bei meinen Recherchen zu helfen. Das Treffen mit den Menschen in Kurachowo werde ich nie in meinem Leben vergessen! Auch Jegor und Natascha hatten alles Menschenmögliche getan, um mir bei meinem Besuch soviel wie möglich zu bieten.
Meinen Satz von 2005, daß die Ost-Ukraine touristisches Niemandsland ist, kann man auch zwei Jahre später noch so stehen lassen. Durch die direkte Flugverbindung mit dem Westen kommen aber doch einige mehr Menschen nach Donezk. Darauf lassen nun auch zweisprachige Speisekarten in Lokalen der Innenstadt schließen. Zunehmend am Start sind auch westliche Firmen. Im Hotel sprach ich mit einem österreichischen Firmenvertreter, der besonders betonte, daß man in der Ukraine gute Geschäfte machen könne und im voraus bezahlt würde. Donezk ist immer noch die Stadt der zwei Gesichter: die herausgeputzte Innenstadt mit dem wunderschönen Puschkin Boulevard auf der einen Seite, auf der anderen Seite die hastig in den 50er - 70er Jahren hochgezogenen Wohnblocks in oft desolatem Zustand. Nebeneinander existieren auch noch Geschäfte im sowjetischen Stil mit Verkäuferinnen hinter Theken, als auch riesige moderne Supermärkte. In Sichtweite des Flughafens hat die "Metro" ein gigantisches Einkaufszentrum gesetzt. An den Fahnenstangen davor wehten in stiller Eintracht nebeneinander die Fahnen der Ukraine, Europas, Deutschlands und Donezks.
Donezk ist - wie schon vor 100 Jahren - ein wichtiges Zentrum der Schwerindustrie und des Kohlebergbaus. Hier befinden sich - zum Teil direkt unter der Stadt - vor allem Steinkohlebergwerke. Diese völlig veralteten Bergwerke erreichen eine zweifelhafte Bekanntheit durch zahlreiche Unfälle. Nur 14 Tage nach meiner Rückkehr ereignete sich eines der schwersten Grubenunglücke Donezks und der Ukraine seit Jahren. Trotz der bekannten Mißstände wird weitergearbeitet wie bisher, denn in Donezk und der umliegenden Region Donbass schlägt das wirtschaftliche Herz der Ukraine. Dieses Ungleichgewicht zwischen wirtschaftlich starkem Osten und schwachem Westen führt unter anderem zu den ständigen politischen Querelen des Landes. Ein angestrebter Strukturwandel war für mich nicht erkennbar. Offenbar macht man so weiter wie bisher, so wird demnächst in Kurachowo ein neues Stahlwerk gebaut werden. Auch Umweltschutz wird ganz klein geschrieben. Neben der Zerstörung der Landschaft durch den Bergbau werden auch nach wie vor Abgase ungefiltert in die Luft geblasen. Für westliche Augen nicht nachvollziehbar sind die ausschließlich oberirdisch verlegten, nicht isolierten Heizungsrohre zwischen den Häusern und entlang von Straßen. Die dadurch explodierenden Heizkosten sind für viele Mieter kaum noch tragbar - ganz zu schweigen vom ökologischen Gesichtspunkt. Aus gutem Grunde hatte sich Jegor in seiner neuen Wohnung für eine individuell regelbare Gasheizung entschieden. Interessanterweise gab es in Wohnvierteln gelbe Drahtbehältnisse, in denen Plastikflaschen zur Wiederverwertung gesammelt wurden.
Das Stadt-Landgefälle war genauso eklatant wie zwei Jahre zuvor und es mutet schon kurios an, wenn vor völlig heruntergekommenen Wohnblocks auf dem Lande Leute mit den neuesten Handymodellen stehen und telefonieren. In Donezk gibt es offenbar eine nicht zu kleine Bevölkerungsschicht, der es recht gut geht. Darauf lassen viele große westliche Autos und teure Geschäfte schließen. Am Stadtrand und auf dem Lande hingegen sind viele Menschen auf die Erträge ihrer Kleingärten und das Pilzsammeln zum Überleben angewiesen. Hatte die Region Donbass zu sowjetischen Zeiten wohl mit den höchsten Lebensstandard des Landes, so hat sich dieses Bild seit der postsowjetischen Wirtschaftskrise gewandelt. Durch die Schließung zahlreicher Fabriken kam es zu einer hohen Arbeitslosigkeit.