Die Reise 2005 nach Donezk und die anschließenden Recherchen hatten mehr Fragen eröffnet als beantwortet. Nicht sehr lange, nachdem ich den Reisebericht auf meiner der Homepage veröffentlicht hatte, erhielt ich die E-Mail eines Bankers aus Donezk, der Deutsch lernte. Ihn hatten meine Beweggründe nach Donezk zu reisen, verwundert. Gleichzeitig war er über meine Erlebnisse in der Ukraine amüsiert. Seit dem Herbst 2005 entspann sich ein lebhafter E-Mailverkehr zwischen uns beiden, bei dem wir uns näher kennenlernten. Gleichzeitig recherchierte ich im Falle meines Großvaters immer weiter. Nach etlichen Bemühungen erhielt ich die komplette Kriegsgefangenenakte samt Krankenbericht, die Kopie eines Lageplans des Friedhofes und Zeugenaussagen aus dem Lager. Aufgrund meiner Homepage meldeten sich auch mehrere Personen bei mir, deren Angehörige in verschiedenen Lagern in Roja verstorben waren. Als absoluter Glücksgriff erwies sich das Kennenlernen von zwei Überlebenden, die in Roja gewesen waren. Für einen Herrn war Roja nur Durchgangsstation auf seiner Odyssee durch viele ukrainische Lager gewesen. Der andere Herr hingegen war vier Jahre in Roja interniert gewesen und hatte gar nicht mal eine so schlechte Zeit erlebt. Aus seinem Lager existierten sogar Photos, die mir seine Tochter zur Verfügung stellte. Ein stundenlanges Telefonat mit ihm war für uns beide wie eine Zeitreise in die Vergangenheit.
In der Zwischenzeit hatte mich mein Donezker Freund Jegor tatkräftig bei meinen Recherchen unterstützt. Nicht nur, daß er die Akten aus Moskau übersetzt hatte, er hatte auch seine Kollegin Olga aus Kurachowo um weitere Recherchen gebeten. Offenbar war sie fündig geworden.
Alle diese Geschehnisse ließen in mir den Wunsch reifen, nochmals nach Donezk zu reisen. Nachdem mir Jegor mitgeteilt hatte, daß er zum Ende des Jahres eine neue Stelle in Kiew antreten würde und dies nun die letzte Chance sei, mit seiner Hilfe weiter zu recherchieren, entschloß ich mich kurzfristig, Anfang November für einige Tage nach Donezk zu fliegen. Glücklicherweise gibt es seit Herbst 2005 eine direkte tägliche Lufthansa-Verbindung von München nach Donezk, so daß man auf die dubiosen ukrainischen Airlines nicht mehr angewiesen ist.
Der Anfang der Reise stand unter keinem guten Stern. Pünktlich konnten wir zwar das Flugzeug an unserem Heimatflughafen besteigen, erhielten aber sofort die Nachricht, daß wir wegen Nebels in München mindestens zwei Stunden auf den Abflug warten müßten. Ich war fassungslos! Nach "nur" einer Stunde Wartezeit auf dem Rollfeld ging es endlich los. Dann wurden wir aber noch in Warteschleifen über München geschickt. Die Stewardeß teilte uns aufgebrachten Reisenden mit, wir würden mit Einzelfahrzeugen direkt vom Flugzeug abgeholt und zu unseren Anschlußflügen gebracht. Nach unserer Landung war von diesen Fahrzeugen allerdings weit und breit nichts zu sehen. Mit dem Bus ging es zum Terminal und von dort joggte ich zu meinem Abfluggate. Als ich dort völlig abgehetzt ankam wurde mir eröffnet, daß auch der Flieger nach Donezk gut eine Stunde Verspätung haben würde! Dies war das erste Mal, daß ich mich über ein verspätetes Flugzeug freute. Vor meinem geistigen Auge hatte ich mir schon den in Donezk wartenden Jegor ausgemalt. Zudem waren wir am darauffolgenden Tag mit Olga in und Kurachowo verabredet. Auch dieser Termin wäre geplatzt. Nicht auszudenken! Jedenfalls kam ich bei der Warterei in München mit einem in der Schweiz ansässigen Niederländer ins Gespräch, dessen ukrainische Frau samt zwei Kindern in Donezk wohnte. Er fand dieses Konstrukt hervorragend und flog mehrmals im Monat zu seiner Familie.
Nach dreistündigem Flug in der nicht völlig ausgebuchten Maschine erreichten wir mit zweieinhalb Stunden Verspätung Donezk. Die Paßkontrolle ging problemlos und der Zoll winkte uns durch. Wie in der Ukraine üblich, gibt es auf den Flughäfen keine Gepäckbänder, sondern man muß sich seine Koffer von einem Wagen abholen. Am Ausgang warteten schon viele Menschen. Auf Anhieb erkannte ich den mir von vielen Fotos bekannten Jegor, der die ganze Zeit auf mich gewartet hatte und mich mit einem riesigen Blumenbouquet empfing. Dabei war es für ihn doch ein Arbeitstag! Zu meinem großen Erstaunen war die im Flughafen befindliche Bank geschlossen. Wo sollte ich denn nun Geld tauschen? Da hatte ich ja nun den Experten dabei. Jegor war samt großem Dienstwagen mit Fahrer zum Flughafen gekommen und wir steuerten das nagelneue Shoppingcenter "Donezk Citi" an der Artjoma-Straße an. Dieses kannte ich noch nicht und es hätte problemlos auch mitten in New York stehen können. In der kleinen Bankfiliale konnte ich problemlos ohne Vorlage eines Ausweises Geld tauschen. Der Wechselkurs hatte sich seit 2005 nicht geändert.
Weiter ging es die Artjoma entlang, wobei ich alle Hauptgebäude auch bei der Dunkelheit wiedererkannte: die Oper, das Theater, die Kathedrale, den Leninplatz usw.. Recht schnell waren wir an meinem Hotel angekommen. Aufgrund der günstigen Lage hatte ich wieder das "Central" gebucht. Jegor setzte mich ab und wir verabredeten uns für später. An der Rezeption war Hektik. Der die Hektik verbreitende Herr stürzte sich förmlich auf mich. Ich müsse eine berühmte Schauspielerin sein, ich sähe so fantastisch aus mit diesem schönen Blumenbouquet auf dem Arm! Solche Komplimente hatte man mir schon lange nicht mehr gemacht. Es stellte sich heraus, daß gerade in Donezk ein Ballettfestival stattfand und der exaltierte Herr ein finnischer Ballettdirektor war, der mit seinen Tänzern auch im Hotel abgestiegen war. Sein bestes Tanzpärchen, welches aus Ungarn stammte und hervorragend Deutsch sprach, wurde mir auch gleich vorgestellt. Auch der Finne schwenkte sofort auf Deutsch um, als er von meiner Herkunft hörte. Das war schon ein sehr amüsanter Empfang!
Das Zimmer im "Central" war in Ordnung, wenngleich der Teppichboden mittlerweile auch einer Erneuerung bedurft hätte. Die Temperaturregelung erfolgte auch immer noch nach der Methode "Fenster auf = kalt" - "Fenster zu = warm". Für mich energiespargedrillte Deutsche ein Sakrileg. Ärgerlich war, daß das Hotel sich nicht in der Lage sah, mir für die wunderschönen Blumen eine Vase zu besorgen. Also wanderten sie zwangsweise in die gefüllte Badewanne.
Einige Zeit später traf ich mich in der Hotellobby mit Jegor und seiner Frau Natascha, die mich auch herzlich begrüßte. Wir entschlossen uns zu einem Besuch in einem neben dem Theater gelegenen Pub. Obwohl ich die beiden ja nur durch das Internet kannte war es mir, als ob ich alte Bekannte wiederträfe. Wir verstanden uns auf Anhieb prächtig. Nach einem Imbiß in dem Pub (mit zweisprachiger Speisekarte) wollten mir die beiden zeigen, wie die Donezker auch jetzt im Herbst ihre Abende verbringen. Nach wenigen Metern waren wir auf dem Puschkin Boulevard angekommen, wo schon reger Betrieb herrschte. Obwohl wir nur 15 Grad hatten, waren alle Parkbänke belegt. Überall standen Gruppen von Leuten herum und amüsierten sich, auch wir wurden freudig begrüßt. Alkohol besorgte man sich in einem nahe gelegenen winzigen Supermarkt, der zu meinem Erstaunen auch viele deutsche Produkte in Originalverpackung führte, so unter anderem Fruchtsäfte und Pralinen. In dem total überfüllten Laden kaufen wir Flaschenbier und gingen zurück zum Puschkin Boulevard. Anschließend besuchten wir noch ein nahe gelegenes, nettes Kellerlokal. Hier wurde auch das Programm für den morgigen Tag besprochen. Früh sollte es losgehen nach Kurachowo, wo uns Olga erwarten würde. Ich war schon mehr als gespannt.
Ich hatte eine miserable Nacht verbracht und war morgens schon sehr früh aufgewacht. Um die Zeit zu nutzen, frühstückte ich entsprechend früh. Das Frühstücksbuffet im Central war erheblich besser als vor zwei Jahren und beinhaltete nun auch viele warme Speisen. Ich entschloß mich, zum Leninplatz zu gehen. Bei immer noch 15 Grad und Sonnenschein präsentierte sich dieser von der besten Seite. Noch immer sah man die Sommerbepflanzung in den Beeten mit zahlreichen schönen Blumen. Vom Leninplatz ging ich am Theater vorbei zum Puschkin Boulevard, dort, wo wir am Abend vorher gewesen waren. Auch der Puschkin Boulevard präsentierte sich, wie schon 2005, von seiner besten Seite. Alles war sauber und sehr gepflegt und es waren trotz der relativ frühen Stunde schon viele Menschen unterwegs. Wieder konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren in Paris oder London zu sein. Ich schlenderte den Boulevard bis zu seinem Ende nach Norden und bog dann nach links auf die Universitätsstraße ab. Dort holte mich allerdings die ukrainische Realität ein: die typischen grauen Mietsgebäude mit den verkleideten Balkonen. Allerdings waren viele Erdgeschosse schon aufwendig renoviert worden und beherbergten schöne Geschäfte. Ich passierte die mir schon von früher bekannten Universitätsgebäude und ging die ganze Straße hinunter bis zum großen See. Im Hochsommer des Jahres 2005 badeten hier zahlreiche Jugendliche, nunmehr trugen die Leute Wintermäntel und der See strahlte einen herbstlichen Charme aus. Auf dem Weg zurück zum Hotel passierte ich wieder einige Stände, an denen gebrauchte Bücher verkauft wurden sowie einige Bilderverkäufer. Aufgrund der Temperaturen waren natürlich viel weniger Stände vertreten als im Sommer. Bei meinem Gang war mir aufgefallen, daß Donezk immer noch die Stadt der Banken ist. Buchstäblich an jeder Ecke gibt es eine Filiale. Ich kenne keine Stadt auf dieser Welt mit einer ähnlichen Bankendichte wie Donezk!
Gerade rechtzeitig erreichte ich das Hotel, um mich mit Jegor und Natascha zu treffen. Diese holten mich mit ihrem noch aus DDR-Produktion stammenden Lada ab. Auf der Heckscheibe stand sogar ein deutscher Werbespruch. Los ging es durch den mittlerweile sehr dichten Verkehr in Richtung des Stadtrandes, wo wir kurz an einem ultramodernen Supermarkt hielten. Ich mußte Natascha bewundern, die erst seit zwei Jahren ihren Führerschein hat, wie sie in diesem Verkehr und auf den schlechten Straßen zurechtkam. Die Fahrweise der Ukrainer ist sehr gewöhnungsbedürftig und an Straßenverkehrsregeln hält man sich nicht unbedingt. Vorbei ging es am Vereinsgelände des bekannten Fußballklubs Schachtjor Donezk in ein landwirtschaftlich geprägtes Areal. Wo sich im Sommer 2005 noch riesige Sonnenblumenfelder befanden, waren diese nun abgeerntet und man sahen nur noch die Stengel liegen. Immer wieder in der welligen Landschaft fielen Kohleminen mit ihren riesigen Abraumhalden ins Auge. Etwa 15 km vor Kurachowo hielten wir an einem Kreisverkehr, um auf Olga zu warten, die uns hier in Empfang nehmen wollte. Ausgiebig hatte ich Gelegenheit, die Aktivitäten der Verkehrspolizisten zu beobachten, die hier Autofahrer kontrollierten. Auch in den nächsten Tagen fielen mir die zahlreichen Kontrollen auf. Nach Jegors Aussage halten diese Polizisten auch gerne mal die Hand auf. Wir blieben zum Glück unbehelligt.
Nach einigen Handytelefonaten wurden wir von Olga in den nahe gelegenen Ort beordert, wo wir sie nunmehr treffen sollten. Richtig, dort wartete sie mit ihrer Mutter Valentina. Jegor und ich sollten zu den beiden in ihren 4x4 Lada steigen. Valentina überreichte mir einen Prospekt des Wärmekraftwerkes mit historischen Photos aus Kurachowo sowie einen Umschlag mit einem Geschenk, wie sie sagte. Fortan redete sie angestrengt auf Jegor ein, der nun in der Pflicht war, mir alles zu übersetzen. Unser erstes Ziel war der historische Bahnhof von Roja, der immer noch in Betrieb ist und diesem Ortsteil seinen Namen gegeben hat. Laut Valentinas Aussage wurden alle in Roja internierten Kriegsgefangenen über diesen Bahnhof angeliefert, somit ist davon auszugehen, daß auch mein Großvater hier entladen wurde. Weiter ging es in Richtung der Innenstadt von Kurachowo. An die Hauptstraße konnte ich mich ansatzweise noch erinnern. Ich bekam mit, daß eine Art Empfang für mich geplant war. Ein Empfang? In der Tat ging es zu einem offiziellen Gebäude, welches wir betraten. Dort empfing mich der stellvertretende Bürgermeister der 46.000 Einwohner zählenden Stadt Kurachowo mit einer längeren Rede, währenddessen er mir einen Strauß weißer Rosen überreichte. Er sei so angerührt von meinem Ansinnen, meinen Großvater zu suchen, daß er seinen ebenfalls anwesenden Sohn mit der Recherche beauftragt habe. Wir würden gleich zu dem Friedhof des Spezialhospitals 6031 fahren. Dann wurde mir eine CD überreicht, auf der Zeugenaussagen zum Lager aufgenommen worden seien. Zudem gab es noch eine Anstecknadel mit dem Stadtwappen Kurachowos. Ich war absolut sprachlos! Daß mein Ansinnen absolut exotisch sein mußte, war auch daran abzulesen, daß der Sohn des stellvertretenden Bürgermeisters die ganze Szenerie auf Video aufnahm. In dem kleinen Büro, in dem sinnigerweise ein Wahlplakat mit Vitali Klitschko an der Wand hing, herrschte ziemliches Durcheinander und ein Sprachengewirr, welches Jegor nur ansatzweise übersetzen konnte. Auf einmal wurde ich aufgefordert in den Nebenraum zu kommen, einen sehr großen Raum, in welchem mich die Bürgermeisterin von Kurachowo offiziell empfing. Auch hier wurde eine längere Ansprache gehalten. Wenn ich alles richtig mitbekommen habe, hatte man wohl erwartet, daß eine "strenge Deutsche" reinmarschieren würde. Ich hingeben sei "hübsch und nett" und man hieß mich außerordentlich willkommen. Meine Suche nach meinem Großvater sei "unfaßbar erstaunlich" für sie. Ich sei eine sehr mutige Frau. Jedenfalls würden sie sich über meinen Besuch mehr als freuen und wollten mir nach Kräften bei der Recherche behilflich sein. Diese stete Betonung des Erstaunens unterstrich für mich, daß ich in den Augen dieser Ukrainer wirklich sehr exotisch sein mußte. Nach einem offiziellen Foto verabschiedeten wir uns von dieser außerordentlich freundlichen Bürgermeisterin.
Mit nunmehr drei Autos, Jegor, ich, der stellvertretende Bürgermeister und seine mittlerweile ebenfalls hinzugekommene Frau in deren Auto, Olga und Mutter im eigenen Wagen und Natascha in deren Wagen ging es los zum südlichen Rand Kurachowos. Wir passierten häßliche 70er-Jahre Plattenbauten und die oberirdisch geführten Heizungsrohre, bis wir vor den mir schon bekannten Kleingärten standen - allerdings an einer anderen Stelle als 2005. Hier wurde mir erklärt, daß diese Kleingärten damals die Grenze zur Sowchose Schachtjor gebildet hatten. Diese Sowchose habe sich südlich angeschlossen. Auf einem Trampelpfad bewegten wir uns durch die Kleingartenanlage, vorweg immer der Sohn des Bürgermeisters, der sich von Zeitzeugen hatte instruieren lassen. Nach sicherlich zehnminütigem Marsch hatten wir das Ende der Kleingartenanlage erreicht, und, so wurde mir berichtet, in dem Winkel zwischen angrenzender Straße und Trampelpfad habe sich der Friedhof befunden. Teilweise auch jenseits der Straße. Natürlich war hier heute von diesem Friedhof nichts mehr zu sehen. Valentina bot mir eine Tüte an, damit ich etwas Erde nach Zuhause mitnehmen könne. Das war schon eine sehr bewegende Geste. In einiger Entfernung sah man einen aus roten Ziegelsteinen gemauerten Wasserturm. Mir wurde erzählt, daß die Kriegsgefangenen um diesen Turm herum Sträucher in Form eines Sowjetsterns pflanzen mußten.