Zum Abschluß des Tages fuhren wir direkt im Anschluß in den Westen Donezk'. Dort befindet sich die letzte noch erhaltene Kriegsgefangenenbaracke in der Region sowie ein vom Volksbund angelegter Kriegsgefangenenfriedhof. Die Fahrt führte uns in ein kleines Dörfchen, wo scheinbar schon das Wochenende eingeläutet worden war. Es war wie in einer Zeitmaschine, die kleinen Häuschen mit angrenzenden Gärtchen, in denen die Bewohner auf Bänken saßen; Gänse, die durch die unasphaltieren Straßen liefen, kläffende Hofhunde... Die Menschen, die uns begegneten, bestaunten uns wie Besucher aus dem All, versuchten aber sofort Kontakt aufzunehmen. Als wir uns als Deutsche zu erkennen gaben, kam es zu spontanen Umarmungen. So eine herzliche Aufnahme hätten wir uns nicht im Traum einfallen lassen. Von Menschen, die auf am Rande des Dorfes gelegenen Feldern arbeiteten, wurde uns fragend zugerufen: "Germania?"
Mitten im Dorf befand sich die ehemalige Kriegsgefangenenbaracke, die die letzten 60 Jahre nur überlebt hatte, weil sie als Schule und Pilzzucht genutzt worden war. Eine liebenswerte alte Dame hatte sich in einem Raum einquartiert und zeigte uns das Gebäude. Viel hatte sich wohl nicht in den Jahrzehnten verändert und man brauchte nicht viel Phantasie, um sich die dreistöckigen Betten in den Räumen vorzustellen.... ursprünglich hatten zig Baracken nebeneinander gestanden, wo nun eine wilde Wiese wucherte. Am Ort des ehemaligen Massengrabes des Lagers einige Hundert Meter entfernt, hat der Volksbund vor wenigen Jahren einen schlichten Friedhof mit stilisierten Kreuzen anlegen lassen, auf den nun auch Tote von anderen Fundorten umgebettet werden. 2003 hatten einige Bundeswehrsoldaten (in Uniform!) Anatolij und seine Mitarbeiter bei den Bauarbeiten unterstützt und bislang liegen 2.000 Tote auf dem Friedhof. Der Gang über den Friedhof war trotz den wunderschönen Wetters bedrückend. Im Hintergrund sahen wir die Fördertürme und Halden der Bergwerke, in denen die Gefangenen arbeiten mußten...
Auf dem Rückweg zum Bus durch das Dörfchen wollte ich noch einige Bilder machen, als mir zwei Einwohner schon in sehr bierseliger Stimmung entgegen kamen. Die beiden hatten einen Mordsspaß mit mir Deutschen zu schäkern - zum höchsten Amüsement einiger älterer Damen, die die Szene verfolgten! Die Begegnung versöhnte mich wieder mit den trüben Gedanken nach dem Besuch des Friedhofs.

Zwei Teilnehmer unserer Gruppe machten sich dann noch trotz der späten Stunde mit Anatolij und Viktor sowie einem Fahrer in dessen Privatwagen auf, das Grab des Vaters zu finden. Nach Rückkehr in das Hotel berichteten sie über eine abenteuerliche Fahrt in dem uralten Wolga quer durch die Stadt. Auf alle Fälle wurden sie anhand der aus dem Moskauer Archiv erhaltenen Unterlagen tatsächlich fündig, wobei oberirdisch allerdings keine Grablagen mehr zu erkennen waren....

Nach diesem sehr langen und extrem anstrengenden Tag aßen wir sehr spät im Hotel noch zu Abend um, dann todmüde in die Betten zu fallen.

Gorlowka, Krasny Lutsch, Antrazit, Kirowsk-Golubowka, Lisitschansk

Am nächsten Tag hieß es wieder früh aufstehen. Um 8 Uhr ging es aus Donezk nach Norden hinaus zur Stadt Gorlowka, wo der Volksbund einen Friedhof unterhält. Hier wurden wir auch zum ersten Mal mit den Straßenverhältnissen in der Ukraine vertraut gemacht: fehlenden Gullideckel, die man wegen ihres Metallwertes verkauft hat, Schlaglöcher en gros, die max. eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 Km/h erlaubten. Der Friedhof selbst liegt inmitten eines ukrainischen Friedhofes und ist nicht besonders groß. Auf ihm liegen ca. 700 Verstorbene. Auf der Grünfläche davor hütete ein älterer Mann Kühe - ein Bild, welches wir noch häufiger zu sehen bekommen sollten.

Als nächstes steuerten wir Krasny Lutsch östlich von Donezk an. Die letzte, nicht mehr erkennbare Ruhestätte von Kriegsgefangenen war am Rande eines völlig verkommenen Stadtteils. Hier befanden sich offenbar Plattenbauten im Besitz von Bergwerken, die diese völlig verkommen ließen. Nicht nur, daß sie von außen völlig desolat waren, ein Blick in einen Flur offenbarte auch nichts Gutes: die Stromleitungen hingen offen von der Decke herab. Der miserable Eindruck des Viertels wurde noch verstärkt durch große Müllkippen an der Straße, die z.T. angesteckt waren und einen unbeschreiblichen Gestank verbreiteten.

Weiter ging es nach Antrazit, noch ein wenig östlicher als Krasny Lutsch gelegen. Überall bot sich das gleiche Bild: Industrieorte mit verlassenen Schacht- und Industrieanlagen, noch arbeitende Fabriken in einem desolaten Zustand. An den Ortsrändern verkommene Plattenbauten, deren herausragendstes Merkmal die nachträglich verschlossenen Balkone waren, um sie auch in den kalten Jahreszeiten nutzbar zu machen. Die Kleidung der Menschen stand in krassem Kontrast zum allgemeinen schlechten Zustand der Umgebung. Vor allem die Frauen waren adrett und sauber gekleidet, oftmals für unseren Geschmack richtiggehend aufgetakelt. Männer bevorzugten allerdings oft den "Ballonseide-Look". Die noch aktiven Industrieanlagen pusteten völlig ungefilterte Abgase in großen Mengen in die Luft. Diese waren nicht nur bunt gefärbt, sondern verbreiteten auch einen bestialischen Gestank. In starkem Kontrast dazu lagen die riesigen Sonnenblumen-, Korn- und Maisfelder zwischen den Orten. Kleinere Dörfer sahen oft für unsere Augen sehr pittoresk aus mit bemalten Häuschen und netten Gärtchen, die augenscheinlich der Selbstversorgung mit Obst und Gemüse dienten. Auffallend für uns waren die riesigen, oft aus Beton gegossenen Ortsnamen am Eingang der Städte, scheinbar noch ein Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten.

In Antrazit machten wir auf Wunsch eines Mitreisenden Rast. Das Grab seines Vaters lag auf dem Betriebsgelände einer inzwischen verlassenen Fabrik, welches aber nicht betreten werden konnte. Wir hangelten uns zwischen Eisenbahnschienen herum, zwischen deren Schwellen überall tatsächlich Anthrazitkohlestückchen lagen. Für mich hatte der Ort ebenfalls eine besondere Bedeutung: immerhin war der älteste Bruder meines Vaters hier im Ort 5 Jahre Kriegsgefangener gewesen. Da die Maschinenfabrik 1946 gebaut worden war, bestand sogar die Möglichkeit, daß er hier nach seiner Tätigkeit im Bergbau und einem schweren Unfall arbeiten mußte... in einer Art Kiosk gegenüber der Fabrik deckten wir uns mit Getränken ein. Die Angestellten konnten es nicht fassen, so viele Ausländer auf einmal zu sehen und hatten ihren Spaß. Ich hatte mir als "Betthupferl" eine Flasche lokales Bier gekauft und Alexander und Anatolij versuchten mich zu überzeugen, daß ich die falsche Marke gekauft hätte.

Schließlich ging es wieder nach Norden und weiter nach Kirowsk (Golubowka). Dort befindet sich der 2002 vom Volksbund angelegte Friedhof direkt hinter einem alten Bergwerk. Der Weg zum Friedhof führte durch eine dörfliche Idylle mit kleinen Bauernhäuschen samt Gärten. Gänse und ihre Gössel tummelten sich in kleinen, extra für sie angelegten Tümpelchen, die Menschen saßen vor ihren Häusern und betrachteten uns neugierig.

Inzwischen war es schon sehr spät geworden. Das Reisebüro hatte ein Abendessen im entfernt liegenden Lisitschansk gebucht. Also mußten wir über die schlechten Straßen erst einmal dorthin fahren. Dort angekommen, war in dem Saal neben unseren Eßraum allerbeste Stimmung: eine Hochzeit wurde in großem Kreis gefeiert und für Live Musik war auch gesorgt. Ein Großteil der Gesellschaft tanzte schon heftigst und die Band war in ihrem Element. Leider verfügte das Restaurant für uns und die ukrainische Gesellschaft nur über zwei Toiletten. Deren Zustand zu beschreiben, schenke ich mir besser! Wir waren jedenfalls heilfroh, als wir um Mitternacht, also nach sage und schreibe 16 Stunden, wieder in Donezk ankamen. Nachtfahrten in der Region würde ich niemandem empfehlen. Nicht nur, daß es keine Beschilderung gibt, die fehlenden Gullideckel und Schlaglöcher sowie die unbeleuchteten anderen Verkehrsteilnehmer machen so eine Fahrt zum absoluten Wagnis. Ich war heilfroh, in dem riesigen Bus zu sitzen und damit bei einem Unfall auf der sichereren Seiten zu sein!