Nachdem ich bereits im letzten Jahr ins Baltikum gereist war, stand auch in diesem Jahr wieder eine Reise ins nordöstliche Europa auf dem Programm. Da ich im vorigen Jahr wegen der Lufthansastreiks extrem kurzfristig umdisponieren mußte und letztlich mit dem eigenen Auto den langen Weg über Polen anreiste, blieb nur noch Zeit für eine Besichtigung von Litauen und Lettland. Diesmal hatte ich mich entschlossen, sowohl den Hin- als auch den Rückweg mit der Fähre zurückzulegen und den Schwerpunkt der Besichtigung auf Lettland und dem mir dato unbekannten Estland zu legen.
Wegen der unterschiedlichen Abfahrtstage- und Zeiten ging es an einem Samstag Ende August trotz des insgesamt völlig verregneten und kalten Sommers 2023 bei brütend heißen 31 Grad und 90 % Luftfeuchtigkeit los nach Norden Richtung Kiel. Nach zwei sehr langen Stunden Warte- und Beladezeit der vollständig ausgebuchten Fähre von DFDS legte diese um Punkt 21 Uhr endlich ab. 22 Stunden später, nach einer ruhigen Überfahrt, erreichte ich den Hafen vom litauischen Klaipėda, dem alten Memel. Wie bereits im letzten Jahr um die gleiche Zeit war es mit 25 Grad angenehm warum und die Sonne strahlte auf die Kurische Nehrung, an der entlang die Fähre in den Hafen einlief. Ich erinnerte mich an den Besuch dort im letzten Jahr und sah, daß die Bauarbeiten am historischen Kurhaus deutlich weiter fortgeschritten waren.
Leider dauerte das Entladen der Fähre auch über 1,5 Stunden, so daß ich keine "Ehrenrunde" mehr durch Klaipėda fuhr, sondern mich direkt auf die Schnellstraße nach Nordosten machte, wo ich in der Stadt Plungė (Plungen) ein schönes, sehr zentral gelegenes Apartment gebucht hatte.
Am nächsten Tag war die Temperatur umgeschlagen, mich empfingen Regen und 16 Grad. Wie ärgerlich! Auf einer gut ausgebauten Straße ging es bei Tempo 90 durch leicht wellige Agrarlandschaft erst nach Osten bis Šiauliai (Schaulen) und dort auf der mir vom letzten Jahr bekannten Straße (die aus von Sowjetsk/Tilsit kommt) nach Norden Richtung Riga, wo ich auch wieder die Landesgrenze nach Lettland überquerte. Im mir ebenfalls noch vom letzten Jahr bekannten Eleja (dt. Elley) bog ich nach Osten ab und erreichte nach insgesamt etwa 1,5 Stunden DIE Attraktion Lettlands: das Schloß Rundale (lettisch: Pilsrundale).
Das Schloß entstand zwischen 1736 und 1740 und wurde durch den Herzog von Kurland, Ernst Johann von Biron erbaut. Die Entwürfe zum Anwesen stammten, wie auch beim im letzten Jahr besichtigten Schloß Jelgava (Mitau), vom italienischen Architekten Rastrelli. Das Schloß blieb, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Herrenhäusern der Region, im 2. Weltkrieg weitgehend unbeschädigt und beherbergt heute ein sehr sehenswertes Museum. Sehr hübsch und gepflegt ist auch der Schloßgarten nach französischem Vorbild mit üppigem Rosengarten.
Vom Barockschloß führte mich mein Weg direkt nach Norden in die Umgebung Rigas und über die Staumauer der Daugava (Düna).
Unweit am nördlichen Ufer des Flusses befindet sich die Gedenkstätte Salaspils (Kirchholm). Hier hatte von 1941 - 1944 das erweiterte Polizeigefängnis und Arbeitserziehungslager der NS gestanden, welches auch Lager Kurtenhof genannt wurde. Das Lager hatte zwar KZ-Charakter, war aber formell keines. Die Häftlinge, darunter viele "Politische", mußten im Lager und bei externen Arbeitskommandos Schwerstarbeit leisten. Ab 1943 wurden in hoher Zahl sog. Bandenkinder, also Kinder von lettisch-russischen Partisanen, interniert.
Die Rote Armee traf im Oktober im geräumten und niedergebrannten Lager ein. Die Häftlinge waren mit Schiffen ins KZ Stutthof bei Danzig gebracht worden. Die Sowjets benutzen die Gegend des Lagers bis in die 1960er Jahre als Truppenübungsplatz. Danach entschlossen sie sich zur Errichtung der Gedenkstätte im Stil des Brutalismus. Lettland korrigierte nunmehr die fehlerhaften sowjetischen Aussagen zum Lager (es gab keine Krematorien!) und installierte innerhalb eines Gebäudes eine kleine informative interaktive Ausstellung.
Ich verließ die Gedenkstätte, umfuhr bei erstaunlich dichtem Verkehr Riga und erreichte abends mein offenbar neu eingerichtetes Apartment im Garten eines Einfamilienhauses in Sigulda.
Sigulda gehört wohl mit zu den meistbesuchten lettischen Orten, und das nicht ohne Grund. Die Region war Siedlungsgebiet der Liven, die um 1200 von den deutschsprachigen Kreuzrittern erobert und christianisiert wurden. Aus dieser Zeit stammt die Burg Segewold, deren Ruinen und Burggraben heute noch bestehen und besichtigt werden können. Direkt angrenzend findet sich das sog. Neue Schloß im neogotischen Stil, ehemals Sitz der einflußreichen Kropotkin Familie. An den diversen Souvenierständen beim Schloß war ablesbar, welcher Touristenandrang hier normalerweise zur Hochsaison herrscht!
Ich fuhr weiter zu "der" Attraktion der Stadt und Lettlands, der pittoresken Burg Turaida (Treyden), 1214 vom Erzbischof von Riga auf einem Hügel hoch über dem Flußtal der mäandrierenden Gauja errichtet auf den Ruinen einer Livenburg. Zwar brannte die Burganlage 1776 ab, wurde aber ab den 1970er Jahren zum Entzücken der Touristenmassen restauriert. Man sollte sich vom pseudo-Mittelalter Getue ("mittelalterlich" verkleidete Angestellte) nicht abschrecken lassen und auf einem schmalen Stieg den 38 Meter hohen Turm erklimmen. Der Blick, besonders über das Flußtal, ist wunderschön.
Interessant ist auch eine Ausstellung zur Geschichte von Burg und Region im Nebengebäude und immer wieder fallen die in deutscher Sprache und deutscher Kurrentschrift verfaßten historischen Dokumente ins Auge. Obwohl Livland 1561 an das Königreich Polen-Litauen fiel, wurde die deutsche Sprache noch sehr viel länger benutzt, wie ein ausgestelltes Taufbuch von 1896 zeigt, welches in Deutsch und Russisch verfaßt war. Um diese Zeit forcierte das Zarenreich die Verdrängung der Deutschen Sprache zugunsten des Russischen.
Zur Entwicklung der deutschen Sprache im Baltikum empfehle ich diesen hochinteressanten Artikel.
Die Burg ist eingebettet in einen sog. Museumspark, eine Art Freilichtmuseum, in dem es in den alten Gebäuden auch Ausstellungen und Handwerksvorführungen gibt.
Weiter ging es in Richtung estnische Grenze. Am Wege sprang mir in Straupe ein nicht zu übersehendes Gebäude ins Auge: die ursprünglich mittelalterliche Festung Lielstraupe (dt. Groß Roop), allerdings nach diversen Umbauten als solche nicht mehr zu erkennen mit Barockturm. Ein Schild verkündigte die Möglichkeit zur Besichtigung.
Nun deutlich im nördlichen Lettland veränderte sich die Landschaft weg vom Ackerbau hin zu Grünland und Wäldern. Getreide wird eher im klimatisch günstigeren südlichen Lettland angebaut.
Immer weiter führte der Weg nach Nordosten. Irgendwann erreichte ich die zweigeteilte Stadt lettisch Valka, estnisch Valga (dt. Walk), durch die mitten hindurch die Landesgrenze zwischen Lettland und Estland verläuft. Davon merkt man aber - bis auf verlassene Grenzhäuschen, estnische Fahnen und die Beschriftung in anderer Sprache - so gut wie nichts. Ich machte einen Zwischenstop an der Johanniskirche vom Ende des 18. Jahrhunderts mitten im estnischen Teil. Vis à vis findet sich das in rosé-weiß gehaltene hölzerne Rathaus, mehrere historische Holzhäuser neben der Kirche wurden gerade renoviert.
Leider begann es dramatisch zu regnen, genauer: zu schütten wie aus Eimern und ich zockelte mit max 80 h/km hinter LKW her. Erstaunlicherweise sah ich auf estnischer Seite doch wieder einige Getreidefelder, die teilweise aber, wie in Deutschland nach dem miserablen Sommer, völlig verpilzt noch auf dem Halm standen und vermutlich untergepflügt werden sollten.
Endlich erreichte ich Tartu, ehemals Dorpat, Universitätsstadt und nach Tallinn zweitgrößte Stadt des Landes. Da es mir unmöglich gewesen war, ein Apartment mit festem Autoparkplatz zentrumsnah zu buchen, hatte ich mich im recht zentral gelegenen Hotel Dopat eingemietet, kein hübsches Gebäude aber günstig gelegen direkt am Emajõgi (Embach). Dort entlang schlenderte ich zur Altstadt und geriet auf dem Rathausplatz in einen regelrechter Menschenauflauf. Der Grund: Tartu wird im nächsten Jahr (2024) europäische Kulturhauptstadt werden. Genau wie in Kaunas im vorherigen Jahr wird dies zum Anlaß genommen, die Stadt herauszuputzen. Das Rathaus war aus dem Grunde leider gerade eingerüstet.
Auffällig waren die zahlreichen klassizistischen Bauten. Dorpat war um 1280 Mitglied der deutschen Hanse geworden, aus dieser Zeit stammen auch noch die Reste der Stadtmauer und der bestens restaurierten Johanniskirche. Tartu hatte über die Jahrhunderte zahlreiche Herrscher, Anfang des 18. Jahrhunderts war es der russische Zar, der die Stadt nach einem Brand auch klassizistisch mit Steinhäusern aufbauen ließ. Interessanterweise wurde bis 1893 an der Universität Tartu noch in deutscher Sprache gelehrt, danach erst auf Russisch. Dem deutschen Einfluß ist es auch zu verdanken, daß es heute noch diverse deutschen Wörter bzw. Lehnwörter im ansonsten für Außenstehende völlig unverständlichen Estnisch gibt. Bei manchen Worten muß man auch einfach nur "etwas um die Ecke denken" wie bei Kirik = Kirche.
Interessant vor diesem Hintergrund war für mich das Kennenlernen von drei älteren Finninnen, die auf Kulturtrip in Tartu waren. Eine davon sprach sogar hervorragend Deutsch. Sie erläuterten mir, daß sie estnisch, obwohl es ja der gleichen Sprachfamilie (finno-ugrisch) angehört, bis auf wenige Worte nicht verstehen könnten. Allerdings sei es für sie einfach zu lernen.
In der Innenstadt fielen mir die zahlreichen jungen Leute auf, offenbar Studenten. Daneben reihte sich eine Außengastronomie an die andere. Zumindest die Altstadt machte einen sehr gepflegten Eindruck. Allerdings wird die schöne Architektur der Altstadt jenseits der Stadtmauer sehr schnell durch postmoderne, sehr neue Allerweltsgebäude abgelöst. Da ich durch Zufall eine Shoppingmall passierte, warf ich einen Blick herein und war über das extrem gehobene Angebot erstaunt. Die Preise waren entsprechend und lagen mindestens auf deutschem Niveau, oft aber höher.
Weiter führte mich meine Reise nach Nordosten auf einer Hauptstraße mit nur ganz wenig Verkehr und nach 60 Kilometern erreichte ich das Altgläubigendorf Mustvee (Schwarzwasser)am Ufer des Peipussees. Die Altgläubigen waren Glaubensflüchtlinge im 17. Jahrhundert aus Rußland uns siedelten insbesondere auf der Ostseite des Sees, der auch heute noch die Grenze zu Rußland bildet. Da diese Grenze nun auch die EU-Außengrenze ist, fand sich im kleinen Fischerhafen des Ortes natürlich ein Schiff der Grenzkontrolle.
Der Ort, für estnische Verhältnisse schon etwas größer, verfügt tatsächlich über vier Kirchen der verschiedenen Glaubensrichtungen, hat einen hübschen Sandstrand und überregionale Infrastruktur. Der Blick über den See läßt die Größe des Gewässers erahnen, der siebenmal so groß wie der Bodensee ist.
Ich folgte der Straße nach Norden parallel zum Ufer, welches man aber an nur ganz wenigen Stellen sieht, da sich zwischen Straße und See ein breiter, mit Bäumen bestandener Landstreifen befindet. Im Dorf Kauksi folgte ich der Seelinie und sah rechts und links der Straße verstreut Häuser und kleine Siedlungen. Mutmaßlich handelt es sich hierbei zu einem großen Teil um Ferienhäuser.
Bei Vasknarva erreichte ich den Abfluß des Peipussees durch den Fluß Narva, die in den finnischen Meerbusen mündet. Direkt am Ufer finden sich die Ruinen der Burg Nyslott (abgeleitet aus Niederdeutsch Neuschloß), 1349 erbaut als Ordensburg und Grenzbefestigung Livlands gegenüber Rußland. Daß die Narva ja immer noch Grenzfluß ist, wird unübersehbar durch die große russische Fahne am anderen Flußufer demonstriert. Mein Handy versuchte sich ständig ins russische Netz einzuwählen.
Erstaunlicherweise findet sich in der Häuseransammlung Vasknarva ein unerwartet großes, orthodoxes Kloster. Unbedingt einen Stop einlegen sollte man an der direkt dahinter gelegenen, gut ausgebauten Anlegestelle für Boote mit großem Parkplatz, von dem aus man einen grandiosen Blick über den See, Fluß und auf die gegenüberliegende russische Uferseite hat.
Ich fuhr zurück bis zum Straßenabzweig nach Norden. Auf der leeren Straße hielt sich niemand der Einheimischen an Tempo 90 und sie bretterten durch das waldreiche Gelände. Offenbar wurde hier nicht kontrolliert. Überhaupt ist man in Estland bedeutend fairer zu Autofahrern als in Deutschland, denn stationäre Radaranlagen werden mit einem großen Symbol vorher angekündigt. Da muß man schon sehr verträumt sein, um noch geblitzt zu werden! In Lettland hingegen hängen kleine Überwachungskameras an hohen Masten über der Straße…
Ich stoppte am Kloster Pühtitsa Kuremäe, mehr ober weniger direkt an der Straße gelegen. Die unerwartet große Anlage des Nonnenklosters ist durchaus einen Besuch wert, denn man fühlt sich direkt ins alte Rußland versetzt. Das Kloster ist übrigens eines der weniges, welches auch in der Sowjetunion durchgehend geöffnet war. Ich sah Nonnen, die sich beim Anblick ihres Spiegelbildes in Fenstern bekreuzigten, durch den wunderschönen Garten huschen. Andere polierten das Inventar der mit Zwiebeltürmen versehenen Uspenski-Kathedrale.
Ich erreichte irgendwann mit der E 20 die Hauptschlagader von Tallinn nach St. Petersburg ("Peterburi"), welches schon überall ausgeschildert war und von hier aus gerade mal 150 km entfernt liegt. Bald war ich in den Außenbezirken von Narva und fuhr zu meinem nächsten Ziel, der Energieanlage Balti Elektrijaam, in der im großen Stil Ölschiefer verbrannt wird. Wen es interessiert: bei den GPS Koordinaten 59.3502, 28.1186 führen diverse Spülrohre für die mit Wasser versetzten Ascherückstände in das gigantische Absetzbecken. Schätzungsweise ist die Aufschüttung um das Becken 40 Meter hoch, wenn nicht noch deutlich höher….
==> Siehe zum Thema Ölschiefer auch den Exkurs weiter unten.