Die Straße war die erste ostpreußische baumbestandene Allee die ich befuhr. Nach wenigen Kilometern hatte ich Romanowo erreicht. Der "Dorfkern" war unschwer zu erkennen: ein Lebensmittelgeschäft aus den 1970ern und gegenüber ein gepflasterter Platz. Vis-à-vis stand ein stattliches Haus aus deutscher Zeit. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich dahinter die Kirchenruine, mein eigentliches Ziel. Ich hatte im oben erwähnten Bildband zahlreiche Abbildungen von ruinierten Kirchen gesehen, steht man aber selbst vor so einem Gebäude, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Besonders tragisch ist aber der Fall von Pobethen.
Der Ort gehört zu den ältesten Siedlungsplätzen der Ostseeregion. In der Kirche wirkte von 1540-75 der evangelische Pastor Abel Will, der Luthers Katechismus ins Pruzzische übersetzte und auch die Gottesdienste zweisprachig abhielt. Dadurch trug er dazu bei, die pruzzische Sprache zu erhalten.
Tragisch ist das Schicksal der Pobethener Kirche: als eine der ganz wenigen hatte der Bau aus dem 14. Jahrhundert den 2. Weltkrieg unzerstört überstanden. Der fast 50 m hohe Kirchturm muß sehr imposant ausgesehen haben, dann setzten Zerfall und Demontage ein. In den 1990er Jahren wäre die Kirche noch zu retten gewesen, als sie der russisch-orthodoxen Kirche übergeben wurde. Als sich herausstellte, daß keinerlei Wiederaufbauversuche unternommen wurden, verkam das Gebäude endgültig zum Steinbruch. Die verwendeten Baumaterialien der Schuppen der die Kirche umgebenden Gebäuden sprechen Bände…
Gedankenverloren ging ich zu meinem Auto, als ich auf einmal Pferdehufe hörte: ein Mädchen führte zwei gesattelte Pferde und bei Fuß liefen - die Fohlen der Mutterstuten! So hatte man das früher in Deutschland auch gemacht. Die Fohlen begleiteten die Mutterstuten auf das Feld oder sonst zur Arbeit und lernten so spielerisch den Umgang mit den Menschen kennen. Im heutigen Deutschland völlig undenkbar!
Nur wenige Kilometer östlich von Pobethen liegt Rotschtschino. Über einen unscheinbaren Feldweg neben dem Dorfbach erreicht man "die" Attraktion der Region: Schloß Grünhoff.
Der Ort blickt auf eine höchst bewegte Geschichte zurück. Urkunden belegen, daß bereits 1323 ein Komtur (Leiter und Verwalter einer Ordensniederlassung eines geistlichen Ritterordens) hier seinen Sitz hatte und eines der größten Gestüte des Deutschen Ordensstaates bewirtschaftete. Friedrich Wilhelm II., der Große Kurfürst, ließ sich bis 1640 hier ein Wohnhaus bauen für die Zeit zwischen den Jagden im Grünhoffer Forst. 1703 wurde daraus ein Jagdschlößchen für den König von Preußen Friedrich I. Die große Zeit der Domäne brach allerdings erst später an: 1815 wurde sie dem Grafen Friedrich Wilhelm Bülow von Dennewitz als Belohnung für seinen Einsatz in den napoleonischen Kriegen überlassen. Der General verstarb allerdings kurz nach seiner Rückkehr nach Ostpreußen und wurde im Park des Schlosses bestattet. Sein Sohn Friedrich Albert baute das Schloß im spätklassizistischen Stil zwischen 1850 und 1854 beträchtlich um und aus. Es überstand den 2. Weltkrieg weitgehend unbeschadet, wurde erst als Kindergarten, dann als Landambulantorium genutzt. In den wilden 90ern stand es leer und wurde, wie so manches andere Gebäude, komplett ausgeschlachtet. 2010, nach anderen Quellen erst 2015, fand sich ein Investor, der das Gebäude retten will. Leider war im Jahre 2013 ein Viertel (!) des Gebäudekomplexes eingestürzt. Unzweifelhaft haben seitdem Bauarbeiten eingesetzt, Teile wurde neu aufgemauert. Bei dem zerrissenen Plastik in einigen Fensterhöhlen stellte sich mir allerdings die Frage, wann hier zuletzt gebaut worden war. Zumindest ein Teich hinter dem Gebäude war frisch ausgehoben und im Park waren recht neue Caterpillarspuren zu sehen. Völlig surreal war der Besuch in den ehemaligen Stallungen, die auch noch als solche zu erkennen waren: hier gab es die alte Ständerhaltung und die Futtertröge stammten aus Bunzlau. Die Ruinen lassen auch heute noch die Größe der Wirtschaftsgebäude erkennen. Restlich befremdlich ist die Tatsache, daß man von Ende des Grundstücks die Trasse der neuen Autobahn erkennen kann…
Das verfallene Mausoleum des Generals suchte ich im verwilderten Park vergeblich. Wegen der sintflutartigen Regenfälle an den Vortagen war das gesamte Areal komplett aufgeweicht.
Schnell erreichte ich Selenogradsk, das historische Cranz. Da es an und für sich Einfahrtsbeschränkungen gibt, parkt ich in einer Seitenstraße unweit des Bahnhofs und macht mich zu Fuß auf den Weg. Sofort war klar, daß das einstige älteste und modernste Seebad an der Bernsteinküste einen völlig anderen Charakter hat wie Rauschen. Cranz ist und war eine typische Kleinstadt, Rauschen eine Gartenstadt. Kaum betritt man die nunmehr in Kurortny ul. umbenannte ehemalige ul. Lenina wird dieses klar. Man fühlt sich wie in einer Zeitmaschine 100 Jahre zurückversetzt. Es gibt zahlreiche Gebäude aus wilhelminischer Zeit, teilweise renoviert, teilweise in bedauerlichem Zustand. Die Zwiespältigkeit der Stadt wird wohl nirgends so klar wie vor dem renovierten Kurhaus: hier steht eine Statue von Lenin.
Einen Besuch wert ist die ehemalige evangelische Adalbertkirche von 1897. Im Sozialismus als Turnhalle genutzt, ist sie seit 2003 - bestens renoviert - die Kirche der orthodoxen Gemeinde. Nicht weit entfernt befindet sich der ehemalige, nicht übersehbare Wasserturm, ebenfalls bestens renoviert und mit einen Museum ausgestattet. Leider wurde direkt daneben ein postmoderner Unterhaltungskomplex erbaut. Sehenswert an der ul. Mosovskaja sind einige sehr gut erhaltene Villen aus der Kaiserzeit.
Die Cranzer Strandpromenade von 1850 wurde leider 1970 durch eine "moderne" Betonkonstruktion ersetzt. Der Pier war zur Zeit meines Besuches gesperrt, vermutlich besteht Einsturzgefahr. Auch hier wurde der ehemals 100 m breite Strand 2012 durch die Sturmflut abgetragen. Allerdings hat man in der Stadt dazugelernt: entlang des gesamten Strandabschnittes wurden in kurzen Abständen hölzerne Wellenbrecher in das Meer gerammt. Man kann nur hoffen, daß sie ihren Zweck erfüllen, denn ansonsten hat auch Selenogradsk ein Problem.
Wie es in alten Zeiten in der Stadt aussah, wird dem Besucher überall durch die überdimensionalen Reproduktionen alter Ansichten vor Augen geführt.
Südlich von Cranz an der alten Reichsstraße 128 (heute A 191) befindet etwas abseits Melnikovo. Etwa 3 km nördlich der Stadt fand eine der größten Schlachten des Mittelalters in Ostpreußen statt: das Ordensheer schlug hier die viel stärkeren Litauer. Die Kirche, auf einem Hügel über einem künstlichen See, an dem der Deutsche Orden um 1270 eine Burg angelegt hatte, ist nur noch Ruine, der See dahinter malerisch. Das Dorf ist wie aus der Zeit gefallen, an einigen Stellen wurde renoviert und dabei deutsche Inschriften freigelegt. Ein Kilometer hinter dem Ort unterquert die Landstraße ein einsam stehendes Monument: eine Brücke in der Landschaft. Es ist das Fragment der geplanten Autobahn von Königsberg nach Cranz und stammt aus dem Jahre 1940.
Zurück nach Norden gelangt man durch den Weiler Muromskoje. Seit 1351 war Laptau Sommersitz der samländischen Bischöfe, aber die Burg wurde bereits 1850 abgetragen und für den Bau der Landstraße verwendet. Man sieht auch hier: Geschichte wiederholt sich.
Wie aus der Zeit gefallen ist das östlich der Hauptstraße stehende Kriegerdenkmal aus dem Ersten Weltkrieg. Völlig skurril ist die in Sichtweite befindliche Kirche aus dem 14. Jahrhundert. Die bereits im Krieg lädierte Kirche wurde 1987 um ihren Kirchturm beraubt und dann im Gebäude eine Sporthalle eingerichtet. Z.Zt. meines Besuches sah es nicht so aus, als wenn das Gebäude irgendeinem Zweck diente. Von der umliegenden Nachbarschaft wurde mein Besuch mehr als argwöhnisch beäugt.
Zweifelhafte Berühmtheit erlangte der Ort Anfang der 1990er Jahre, als bei Bauarbeiten ein 1,5 Kg schwerer Bernsteinbrocken gefunden wurden und dadurch das Bernsteinfieber in der Region ausbrach. Auch heute noch verhaftet die Polizei regelmäßig illegale Bernsteingräber.
Bei leider den ganzen Tag anhaltendem Regen und nur 16 Grad machte ich mich auf, den westlichen Bereich von Swetlogorsk zu erkunden. Nach einer nur kurzen Fahrt war der Nachbarort, besser gesagt Stadtteil Otradnoje erreicht, welcher zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Mischung aus Gartenstadt und Villenviertel erbaut wurde. Viele der alten Häuser sind schön renoviert, die Straßenverhältnisse aber abseits der Hauptstraße unbeschreiblich. An und für sich benötigt man hier einen Landrover, ich wagte es aber trotzdem und erreichte über eine solche Piste das komplett renovierte Kurhaus, welches offenbar gut gebucht war. Der Ort erlangte Bekanntheit durch den Bildhauer und Kunstprofessor an der Königsberger Kunsthochschule Hermann Brachert, von dem auch in Swetlogorsk einige Werke ausgestellt sind. In Otradnoje befindet sich ein Museum zum Wirken von Brachert.
Ich machte mich auf die Suche nach dem alten Bahnhof der Stadt, ein schwieriges Unterfangen. Endlich hatte ich das imposante Gebäude gefunden, das immer noch den Glanz der alten Zeit ausstrahlt. Allerdings ist es innen völlig verwüstet, bis vor geraumer Zeit müssen aber dort noch Menschen gewohnt haben. Ich wagte es, in das Gebäude zu gehen, immer mit dem Blick nach oben, ob die Decke noch hält. Bis ganz nach oben traute ich mich nicht, da auch das Treppenhaus einen unsicheren Eindruck machte. Wie lange das Haus noch stehen wird, steht in den Sternen, denn es fehlen schon die ersten Dachziegeln - immer der Anfang vom Ende. Hinter dem Gebäude verläuft die alte Bahntrasse, nun Gras überwuchert…
Eine Recherche auf der aufschlußreichen Seite prussia39 ergab, daß sich der Verfasser mit der Bahnhofsbezeichnung etwas geirrt hatte. Sein Kartenausschnitt von 1937 zeigt in der Tat den originalen Bahnhof von Georgenswalde, damals Endstation. Das von mir besichtigte Gebäude war aber nicht Bahnhof sondern nur Haltepunkt, unschwer aus der Karte zu erkennen.
Unweit des Gebäudes steht auch noch der alte Wasserturm der Stadt, versehen mit einem recht neuen Dach und - trotz des strömenden Regens - ein sehr imposantes Gebäude. Auch dieser ist auf dem Meßtischblatt verzeichnet als W.T.
In der Nähe stehen noch diverse alte Gebäude in mehr oder weniger gutem Zustand. Leider war mit einem normalen Personenwagen kein Durchkommen mehr, vor allem auch, weil man bei Pfützen nicht sehen konnte, wie tief sie waren. Ich fuhr zurück zur Hauptstraße.
Mein nächstes Ziel war Primorje / Groß Kuhren. Schnell fand ich rechts der Hauptstraße den Abzweig zum ehemaligen Ortszentrum, gekennzeichnet durch die zum Kulturzentrum umgebaute ehemalige Kirche. Sinnigerweise steht davon ein Lenin-Kopf. Offenbar neu, weil noch in keinem Reiseführer beschrieben, ist der von dort abzweigende Weg zum Strand, bestens durch "Plajasch" Schilder ausgezeichnet. Das Sträßchen ist befestigt und bietet eine grandiose, knapp 50 Meter hoch über der Küste liegende Aussicht über die Samlandküste. Trotz des miserablen Wetters war ich sprachlos: die Aussicht stand dem Highway 1 in Kalifornien um nichts nach! Ich fuhr hinunter bis zum Stand, an dem einige Leute große Schlauchboote mit Außenbordern zu Wasser ließen. Den Spuren am Strand nach zu schließen, mußte am gestrigen Sonntag hier einiger Betrieb gewesen sein. Ich nutze die Gelegenheit zu einem Spaziergang am Wasser. Die überall am Ufer stehenden Sanddornsträucher waren mit ihren Früchten überladen. Rechter Hand, also nach Osten, konnte ich die Reste des Zipfelberges sehen. Wieder oben auf der Straße findet man terrassenartige Strukturen, die von Bernsteinabbau in den 1960er Jahren zeugen.
Einige Kilometer weiter bog ich rechts von der Hauptstraße ab in Richtung Donskoje / Groß Dirschkeim. Auf dem Weg in die Nordwestecke der samländischen Halbinsel erreichte ich als erstes Molodogwardeiskoje / Klein Kuhren. Direkt am aufgestauten See findet sich rechter Hand die ehemalige Mühle Finken, als solche aber nur noch mit Mühe zu erkennen. Auf der gegenüberliegenden Seite bestehen noch die Gebäude eines ehemaligen Gutshofes.
Bald erreichte ich Donskoje, welche komplett vom Militär dominiert wird. Somit sparte ich mir den Versuch, nach Norden zum Leuchtturm Brüsterort zu kommen. Daß alles Sicherheitszone ist bemerkte ich daran, als mir bei meinem Versuch einen Häuserblock zu photographieren, eine Frau etwas zurief. Das einzige was ich verstand war "Zone". Vermutlich Sperrzone. Also sah ich zu, daß ich hier weg kam. Das Bild des alten deutschen Hauses mit dem sowjetischen Plattenbau nebenan hatte ich aber bereits im Kasten… Vorbei ging es an einer verkommenen Garagenanlage, die ich so vorher nur im Donbas gesehen hatte. War es hier notwendig, wie dort geheizte Garagenschuppen zu bereiben?
Wegen des Dauerregens machte ich keinen Versuch, von hier aus zur Steilküste zu gelangen. Statt dessen fuhr ich über die ul. Yantarnaya nach Süden. Hier war die Zeit stehengeblieben: eine Pflasterstraße aus Kieseln wie zu alten Zeiten! Zu linker Hand Flächen, die sicherlich in früheren Zeit bewirtschaftet wurden, nun aber vollständig verkommen waren. Schön anzusehen war die flächendeckend gelb blühende Kanadische Goldrute, die aber aus landwirtschaftlicher Sicht als invasiver Neophyt eine Katastrophe ist. Hier war seit Ewigkeiten kein Ackerbau mehr betrieben worden! Nach 1990 ist der relativ wenige Ackerbau, der hier seit 1945 betrieben wurde, auch noch zusammenbebrochen. Nur noch mit viel Phantasie kann man sich vorstellen, daß Ostpreußen einst die Kornkammer des Deutschen Reiches war. Erahnen lassen nur noch die riesigen Größen der Felder, die nun total überwuchert sind. In absehbarer Zeit wird die Gegend völlig versteppt sein. Mir unerklärlich war auch die Tatsache, daß ich in einigen Bereichen in diesem Sommer abgemähte Wiesen sah. Die Rundballen verrotteten nun seit Monaten im Regen…