Jantarnyj / Palmnicken

Über die historische Straße kam ich im Schneckentempo voran. Diese Straßen wurden wirklich für die Ewigkeit gebaut! Nach geraumer Zeit erreichte ich Jantarnyj / Palmnicken. Jantar heißt Bernstein und ist ein prägnanter Name für das Städtchen, welches ursprünglich nur ein Fischernest war, bis der industrielle Abbau des Bernsteins begann.

Maurice Becker und sein Kompagnon gründeten die Firma "Stantien & Becker" und begannen mit dem industriellen Abbau des Rohstoffs. 1864 wurde die erste Mine "Henrietta" eröffnet, dann die Mine "Anna", 18 Meter tief und bis 1925 in Betrieb mit einem jährlichen Ertrag von 500 Tonnen Bernstein. 1912 wurde die Mine "Walter" 50 Meter tief gegraben und auch nach 1945 weiter betrieben.

Da ich mich der Stadt auf eher ungewöhnliche Art über die Nebenstraße genähert hatte, passierte ich am Ortsrand alte Häuser, an einem war deutlich noch die Inschrift zu lesen "Feyerabend Haus". Kurz darauf führt eine mit Verbundpflaster befestigte Straße in Richtung des Strandes. Am Ende des Weges findet sich der Zugang zum riesigen, mit Dünen bedeckten Sandstrand. Dort steht auch das Denkmal, welches an das Massaker von Palmnicken erinnert. In ganz Ostpreußen waren Ende des Krieges jüdische Zwangsarbeiter aus KZ-Außenlagern mit Schanzarbeiten beschäftigt worden. Ende Januar 1945 wurden ca. 3 - 5.000 Menschen, überwiegend Frauen, von Königsberg an die Küste getrieben, wo sie ein SS-Kommando lebendig in einen Bernsteinschacht einmauern wollte. Dem stellte sich Hans Feyerabend, Direktor der zum Bernsteinwerk gehörenden Staatsgüter und Volkssturmkommandant entgegen. Als man ihn ausschaltete, trieb die SS die Menschen mit Maschinengewehrsalven in die eisigen Fluten, nur ca. 21 überlebten. Mit dem Vertreiben der deutschen Bevölkerung geriet das Massaker in Vergessenheit und erst, als in den 1990er Jahren ein Augenzeuge seine Memoiren veröffentlichte, kam die Wahrheit ans Licht.

Vor dem Hintergrund dieses entsetzlichen Geschehens ist es schon sehr befremdlich, daß direkt unterhalb der Gedenkstätte das normale Strandleben seinen Lauf nimmt und ein Restaurant fast an der Stelle des richtigen Massengrabes steht…
Gedankenverloren fuhr ich in die Stadt.

Bald erreichte ich auf der linken Seite die ehemalige evangelische Kirche, die restauriert seit 1990 der orthodoxen Gemeinde dient. Schräg gegenüber befindet sich das 2012 neu eröffnete 5-Sterne Schloß-Hotel, welches auf eine bewegte Geschichte zurückblickt.

Der preußische König Friedrich errichtet auf der Stelle eines Jagdschlößchens 1703 ein größeres Gebäude welches 1870 der Bernsteinindustrielle Moritz Becker (Stantien & Becker) erwarb und abreißen ließ. Er ersetzte es durch das heute noch bestehende hochherrschaftliche Gebäude, welches 1899 an den preußischen Staat fiel und seitdem als Schloß-Hotel diente.

Hinter dem Hotel führt ein öffentlich zugänglicher Weg direkt zum extrem breiten Sandstrand. Wegen des Regens, verbunden mit starkem Wind, wagte ich (leider) nur einen kurzen Blick aufs Meer. Weiter ging es nach Süden. Ich traute meinen Augen nicht: Die ul. Sovjetskaya wirkte wie aus der Zeit gefallen: dicke, uralte Straßenbäume und rechts und links der Straße originale Häuser aus der Vorkriegszeit, ziemlich gut erhalten. So muß Palmnicken vor 1945 ausgesehen haben! An einem sowjetischen Kriegerdenkmal ging es nach links hoch zu meinem nächsten Ziel, dem Bernsteinkombinat. Allerdings hatte ich schon dem Internet entnommen, daß es seit geraumer Zeit keine Führungen mehr durch die Fabrik gibt und auch das Museum geschlossen ist. Schade… einzig offen war ein kleines Geschäft für Bernsteinschmuck…. direkt gegenüber der Fabrik stand der unvermeidliche Wasserturm und einige andere alte Gebäude.

Verläßt man die Stadt nach Süden, erleidet man einen Kulturschock: aus der deutschen wird eine sowjetische Stadt mit verkommenen Plattenbauten. Hier zweigt auch die Zuwegung zum Tagebau des Bernsteinwerkes ab, der von einer Aussichtsplattform betrachtet werden kann. Leider war es bereits nach 17 Uhr und der Schlagbaum geschlossen. Die Fabrik hat hier neue Gebäude errichtet, aber die alten als Ruinen daneben stehen lassen….

Russkoe / Germau

Nach nur weiteren 6 Kilometern erreicht man den Ort Russkoe / Germau oder genauer das, was davon übrig ist, denn im Ort und der Umgebung gab es am Ende des 2. Weltkrieges erbitterte Kämpfe. Davon zeugt im ehemaligen Ortszentrum ein großes Ehrenmal für die Gefallenen des "Großen Vaterländischen Krieges". Direkt gegenüber befindet sich eine Gedenkstätte des Volksbundes Deutscher Gräberfürsorge.

Der Raum zwischen Palmnicken [Jantarnyj], Germau [Russkoje] und Fischhausen [Primorsk] war von Januar bis April 1945 von extremer strategischer Bedeutung für die deutsche Wehrmacht, denn er stellte den letzten Zugang von Köningsberg zum Ostseehafen Pillau dar. Nachdem Köningsberg bereits im Februar völlig durch die Rote Armee abgeriegelt war (Karte), erfolgte am 18. und 19. Februar eine Durchbruchsschlacht, die den Weg vom Haff zur Stadt wieder öffnete (Karte). Hierdurch wurden einige bereits vorher von der Roten Armee besetzte Ortschaften wieder zurückerobert und Kriegsverbrechen (Massaker von Metgethen) entdeckt. Einen guten Eindruck in die chaotischen Verhältnisse im Samland zum Ende des Krieges gibt der Bericht eines lokalen Landrates.

Germau hat eine lange Geschichte: der Deutsche Orden legte auf den Wällen der ehemaligen Pruzzenburg Girmowe eine Feste an. Später wurde der Ort Sitz des Bernsteinmeisters. Ab 1596 wurde die Burg zu einer Pfarrkirche umgebaut. Von der Kirche steht heute nur noch die Rückwand, sie wurde auf höchst geschmackvolle Art in das große Friedhofsareal integriert. Der Volksbund hat hierher die bislang gefundenen gefallenen Soldaten und Zivilisten aus der Region umgebettet. Die Daten auf den Grabsteinen sprechen für sich. Von den originalen Grabsteinen sind nur noch fünf erhalten, man hat sie im Gelände aufgestellt. Nachdenklich verließ ich das große Areal und traute meinen Augen nicht: da trieb ein Bauer mitten über die Hauptstraße in aller Seelenruhe zwei Schafe nach Hause…

Kurische Nehrung

Am nächsten Tag hatte es endlich aufgehört zu regnen - Zeit, auf die Kurische Nehrung zu fahren.

Die Nehrung zwischen Selenogradsk im Süden und Klaipeda im Norden ist etwa 100 Kilometer lang und trennt die Ostsee von der riesigen (fast drei Mal so groß wie der Bodensee) Brackwasserlagune Haff. Einzig in Klaipeda gibt es einen Durchlaß, der ständig ausgebaggert werden muß. Die Wanderdünen auf der Nehrung sind die höchsten Europas und waren bis ins 20. Jahrhundert gefürchtet. Entstanden waren sie durch massive Abholzungen im Mittelalter und begruben in der Folgezeit zahlreiche Dörfer unter ihren Sandmassen. Die Begeisterung für diese außergewöhnliche Landschaft setzte im späten 19. Jahrhundert ein, als Wissenschaftler und Künstler das ursprüngliche Leben auf der Nehrung entdeckten. So baute sich Thomas Mann in Nidden 1923 ein Sommerhaus. Dieses liegt nun auf der litauischen Seite der Nehrung. Diese ist fast genau in der Mitte durch die russisch-litauische Grenze getrennt, die sich an der alten Grenze des Deutschen Ordens zwischen Memel und Königsberg orientiert und nun auch die EU-Außengrenze ist.

Da ich schlecht den Zeitaufwand für den Besuch abschätzen konnte, entschloß ich mich, als erstes direkt bis zum Endpunkt zu fahren und von dort aus sozusagen rückwärts mit den Besichtigungen zu beginnen. Etwa bei Kilometer 46 kam ich nicht weiter: ein Militärgrenzposten kontrollierte den Durchlaß. Ich wollte nicht die Probe aufs Exempel machen und drehte um. Die EU-Außengrenze schaute ich mir lieber auf Google Earth an.

Etwas südlich fand ich einen offiziellen Rastplatz und konnte über einen Holzsteg auf die Dünen zur Ostseeseite gehen. Der Blick von dort oben machte mich sprachlos. Eine naturbelassene Küste mir einem riesig breiten, feinsandigen Sandstrand. Bedenklich stimmte mich allerdings die Tatsache, daß die Menschen - trotz der eindeutigen und sogar zweisprachigen Verbotsschilder - durch die Dünen trampelten. Überall waren Wege zu sehen. Und das soll das ganz besonders geschützte Weltnaturerbe sein?

Mein nächstes Ziel war Morskoje / Pillkoppen. Der Ort mit zahlreichen alten Häusern strahlt noch sehr den Reiz des ehemaligen Fischerdörfchens aus, allerdings wurden bereits einige mehr oder weniger geschmackvolle Datschen errichtet. Es lohnt, zu Fuß von der Bushaltestelle hinunter zum Ufer zu gehen. Das kann man hinter Schilf nur mehr erahnen. Es gibt aber einen Erdhaufen, von dem aus man einen Überblick erhält. Der Ort hat nun selbst auch eine kleine Lagune und keinen direkten Zugang mehr zum Haff. Fasziniert war ich vom abrupten Ende der riesigen Düne hinter dem Dorf - dem ehemaligen Petschberg. Ich befuhr die ul. Pervomayskaya und sah mich an deren Ende auf einmal wieder mit dem Eingang zu einem Militärbereich konfrontiert. Bloß weg hier! Einer Eingebung folgend, fuhr ich zwischen zwei Häusern hindurch und konnte von da aus Trampelpfade zur Düne hinauf sehen. Da mußte ich rauf! Der Blick von oben war gigantisch: man überblickt das ganze Dorf und das Haff. Dann stieß ich dort noch auf eine deutsche, bunkerartige Beobachtungsanlage mit zwei Eingängen in Richtung des Haffs.

Mein nächster Stop war nur einen Kilometer weiter südlich: Ephas Düne, benannt nach Franz Epha, seit 1870 Königlicher Dünen- und Plantageninspektor, der durch eine neue Technik dem Wandern der Dünen Einhalt gebieten konnte - eine Meisterleistung seiner Zeit. Sein letztes Werk war die Befestigung des 63 m hohen Petschbergs bei Pillkoppen, auf dem ich gestanden hatte. Seitdem nannte man ihn Ephas Höhe. Am jetzigen Standpunkt Altdorfer Berg hatte der Deutsche Orden 1283 die erste Ordensburg auf der Nehrung errichtet: Burg Neuhaus, die aber einige Jahrzehnte später verweht wurde. Er weiß, wann sie wieder ans Tageslicht kommt? Bei Ephas Düne führt ein breiter Holzsteg erst durch den Wald und dann über mehrere neu angelegte Stops mit Hinweistafeln (leider nur in russisch) zu Aussichtspunkten, die grandiose Panoramaaussichten über die Dünenlandschaft erlauben. Hier bekommt man einen Eindruck von der enormen Größe des Areals! An und auf der Straße spielten, wie schon auf dem Hinweg, zwei Füchse ohne jede Scheu vor den Autos.

Große Bekanntheit hat bei Kilometer 38 der "Tanzende Wald", seltsam geformte, verdrehte Bäume, welche angeblich auf durch das Militär nach 1945 verseuchten Boden zurückzuführen sind. Die Attraktion ist wie alle auf der Nehrung gut ausgeschildert und ein Holzsteg führt zu den Bäumen. Ein Schild verweist auch auf die in den 1920er Jahren in der Nähe am Schwarzen Berg gelegene, sehr bekannte Segelflugschule von Ferdinand Schulz.

Bei Kilometer 34 zweigt eine Straße nach Rybatschi / Rossitten ab, in dem die bekannte Vogelwarte bestand. Johannes Thienemann war Pastor in Rossitten, leidenschaftlicher Ornithologe und gründete 1901 die erste Vogelwarte der Welt mit dem Ziel, die Wege der Zugvögel zu erforschen.

Heute noch macht das Dorf einen verträumten Eindruck, es gibt kaum neue Datschen und sogar die Kirche ist bestens renoviert und dient wieder als Gotteshaus. Gegenüber findet sich die Schule oder Pastorenhaus, nun ein Gästehaus mit deutschem Namen. Das Ensemble wirkt wie aus der Zeit gefallen. Auffällig ist, daß hier, wie auch an anderen Stellen, überall Tafeln mit Erläuterungen zur Geschichte der Sehenswürdigkeit aufgestellt sind.

Etwas südlich von Rossitten ist Ozera Chayka, ein malerischer See. Der alte Mövenbruch ist das größte Binnengewässer der Nehrung.

Die russische ornithologische Station wurde 1957 südlich von Rossitten errichtet. In Fringilla (= Fink), werden pro Jahr ca. 100.000 Vögel beringt und es ist die größte wissenschaftliche Vogelfangwarte Europas.

Die Kirche von Sarkau / Lesnoje einige Kilometer weiter südlich ist als solche nicht mehr zu erkennen, sie ist heute Kulturhaus und hat merkwürdige Verzierungen an der Außenwand. Einst war Sarkau das größte und wohlhabendste Dorf auf der Nehrung, da sowohl Fischfang als auch Landwirtschaft betrieben wurden. Nördlich des Dorfes ist das Haff am schmalsten, gerade mal 400 m mißt die Stelle. Wenig verwunderlich ist, daß es hier 1983 auf einer Länge von zwei Kilometern zu einem enormen Wasserdurchbruch kam, der das Haff zweiteilte. Nur mit massivem Einsatz der Armee konnte der Durchbruch geschlossen werden. Um so unverständlicher ist es, daß an der Stelle des Durchbruchs ein Steg durch die Dünen führt und daneben in der ramponierten, vom Meer angegriffenen Dünen, zahlreiche Trampelpfade an den Strand führen. Dies ist die nächste Sollbruchstelle für einen Wassereinbruch.

Ein langer Tag ging zu Ende mit dem Einkauf im Viktoria Supermarkt am Kreisverkehr in Selenogradsk. Rundherum entstanden Neubauten und die Hochhäuser adaptieren den vertüddelten Stil der deutschen Kaiserzeit.