Da mein Heimflug erst spät am Nachmittag ging und am Abreisetag das Wetter akzeptabel war, mache ich machte ich mich nochmals zu Fuß auf den Weg. Nach wenigen Schritten hangabwärts erreichte ich den vom Deutschen Orden aufgestauten Mühlenteich und die dort stehenden uralten Linden. Wenn die erzählen könnten! Durch den Wald erreichte ich recht schnell den Bahnhof (ehemals Rauschen-Ort) im kaiserzeitlichen Originalzustand. Ganz in der Nähe findet sich direkt oberhalb der Hauptstraße auch die - ebenfalls restaurierte - Kapelle und einige Gebäude, teilweise mit deutschen Inschriften.
Schnell erreichte ich später den Flughafen. Die Abgabe des Autos erfolgte wieder auf Spanisch und dann hieß es warten. Wie schon die beiden Hinflüge war die LOT extrem verspätet. Da aber auch der Anschlußflug in Warschau völlig unpünktlich war, erreichte ich ihn nach einem Spurt durch den halben Flughafen. Zu Essen gab es, wie schon auf den Hinflügen, nichts. Zu Trinken nur Stilles Wasser oder kalten Kaffee. Und diese Airline gehört zur Star Alliance! Weit nach Mitternacht erreichte ich fix und fertig mein Zuhause.
Befremdlich ist der Zustand der Landwirtschaft, den mir ein für eine russische Firma arbeitender österreichischer Mitreisender auf dem Heimflug erläuterte.
Kaliningrad ist ein Sonderfall unter den russischen Regionen. Die Exklave ist zunehmend von der prosperierenden Entwicklung ihrer Nachbarländer abgeschnitten, könnte aber aufgrund der bevorzugten Lage ein offener Handels- und Verkehrsknotenpunkt sein. Mehr denn je ist dies eine Vision. Erschreckend ist die Aufrüstung der NATO an dieser Ostflanke und die Tatsache, daß Kaliningrad die militärisch am besten gerüstete Gegend in Europa ist. Seit 2004 eingekeilt zwischen den NATO-Mitgliedern Polen und Lettland und der Ostsee ist Kaliningrad von zentraler Bedeutung für Rußlands strategische Position, nicht umsonst ist das Betreten zahlreicher Bereiche im Oblast für Ausländer verboten (z.B. Baltisk/Pillau als Sitz der Ostseeflotte).
Die Bevölkerung des Oblasts sieht diese Entwicklung mit ängstlichen Gefühlen. Einen regelrechten Putin-Kult wie in Petersburg mit T-Shirts, Tassen und anderen Devotionalien sah ich nirgends. Seitdem der Besuch der westlichen Anrainerstaaten gestattet ist, wurde den Kaliningradern schmerzlich das Entwicklungsgefälle zu ihrem Gebiet vor Augen geführt. Die Schuld hierfür wird nicht zu Unrecht in Moskau vermutet und entsprechend ist die Stimmung.
Wie weit das Entwicklungsgefälle zu z.B. Polen ist, sieht man z.B. auch daran, daß auf dem Lande - oft mitten im Nirgendwo - Menschen zu Fuß laufen. Auch sieht man viele Menschen an Bushaltestellen stehen. Der Besitz eines Autos ist eben noch nicht selbstverständlich.
Für einen deutschen Besucher ist der Besuch ein Wechselbad der Gefühle: teilweise originalgetreue wilhelminische Bebauung, Gebäude das den 30er Jahren mit Beton-Gartenzäumen aus dem russischen Baumarkt (die Kette heißt sinnigerweise "Baucenter"), trostloser Verfall und Zerstörung, kilometerlange Alleen, traumhafte Natur…
Interessant zu beobachten ist eine ähnliche Entwicklung wie z.B. in Breslau oder Danzig: ohne Ressentiments entdecken nun die dortigen Bewohner die (deutsche) Vorgeschichte ihrer Städte. Wurde nach 1945 alles Deutsche in blindem Haß auf die "Faschisten" zerstört, so versucht man nun zu retten was noch zu retten ist. Staunend betreten russische Besucher das Privatmuseum "Altes Haus" in Kaliningrad, in welchem eine "typische" kaiserzeitliche Wohnung gezeigt wird. Nicht umsonst bot mir meine russische Bekanntschaft in Kaliningrad auch den Besuch einer Sammlung deutscher Objekte an, den ein Freund von ihr angelegt hätte. Ins Bild paßt auch der Verkauf alter deutscher Stadtpläne, Postkarten oder die großflächige Ausstellung alter Stadtansichten an der Strandpromenade von Selenogradsk.
Eine Bäckereikette in der Region heißt tatsächlich "Königsbäcker" und schreibt sich in lateinischen Buchstaben.
Auch im Internet sind die (Hobby-) Forscher hoch aktiv. Es gibt zig Webseiten, die den Zustand von Ortschaften vor und nach 1945 akribisch dokumentieren. In Deutschland würde man diese Aktivitäten als revanchistisch bezeichnen, in Rußland stehen sie außer Diskussion. Deutsch scheint "in" zu sein und verspricht als angenehmen Nebeneffekt noch ein gesteigertes Interesse der Touristen.
Ich fand mich in einem Gedankenspiel wieder, was gewesen wäre, hätte die deutsche Regierung 1990 dem Verkaufsangebot der Sowjetunion über die frühere Provinz Ostpreußen zugestimmt. Vor dem Hintergrund, daß in der Zwischenzeit über 100 Milliarden Euro für die Griechenland- "Rettung" versenkt wurden, ist das sicher eine interessante Überlegung.