Am nächsten Tag war ein Ausflug geplant, der mir persönlich sehr am Herzen lag. Ich hatte bei den Vorbereitungen zur Reise von einer Auffangstation für mißhandelte Bären in der Nähe von Lviv gelesen. Die österreichische Tierschutzorganisation Vier Pfoten kämpft seit Jahren weltweit gegen die Mißhandlung von Tieren und setzt sich in der Ukraine insbesondere gegen die Privathaltung von Bären ein. Im Land gibt es die Tradition, Bären entweder auf Jagdstationen zum Training von Hunden zu halten, sie als Attraktion neben Restaurants einzupferchen oder als sogenannte Tanzbären zu mißbrauchen. Die Bärenhetze, also das Anbinden von Bären, denen oftmals die Klauen entfernt wurden, und das darauf Hetzten einer Hundemeute zu deren "Ausbildung", ist offiziell seit 2015 verboten - allerdings nicht das Halten von Bären auf den Jagdstationen und auch nicht das Halten als "Tanzbär". Es ist also zu vermuten, daß weiter illegale Hetzen stattfinden. Mindestens 20 Bären leben nach wie vor auf Jagdfarmen, sicherlich gibt es aber eine Dunkelziffer.
Meine neue Bekannte und ich machten uns am späten Vormittag mit dem Taxi auf den Weg ins 22 km von Lviv entfernte Domazhyr. Leider gibt es noch keine offiziellen Exkursionen oder öffentliche Transportmittel, da die Preise für Taxis aber erschwinglich sind, hatte ich eines für umgerechnet 25 € inkl. einer guten Stunde Wartezeit geordert.
Raus aus der Stadt ging es über die rumpelige Kopfsteinpflasterstraße, die uns wieder am Janowska Arbeitslager vorbeiführte und dann an den Stadtrand brachte, wo die Bebauung schließlich in Felder überging. Nach etwa 40 Minuten hatten wir die im April dieses Jahres eröffnete Auffangstation "Bärenwald Domazhyr" erreicht. Sehr freundlich wurden wir von einer gut Englisch sprechenden jungen Frau empfangen. Da die Besichtigung des großen Geländes nur mit einer Tour erlaubt ist, mußten wir noch etwas warten.
Die Station beherbergt mittlerweile einige Bären in zwei Arten von Gehegen: große mit Wald bestandenen Areale und einen Wiedereingliederungsbereich für neu eingelieferte Bären. Hier leben auch zwei blinde Tiere, denen man ganz augenscheinlich für die "leichtere" Haltung das Augenlicht genommen hatte. Die beiden werden aufgrund ihrer Behinderungen nie mehr in der Lage sein, in eines der großen Gehege umzuziehen.
Die Station macht einen exzellenten Eindruck und hier wird Pionierarbeit betrieben. Der Gedanke des Tierschutzes ist in der Ukraine, wie oft auch in anderen wirtschaftlich armen Ländern, nur gering ausgeprägt. Wie soll man Menschen, die am Rande des Existenzminimus leben und noch als alte Leute darauf angewiesen sind, für ein winziges Zubrot Dinge auf Pappkartons zu verkaufen oder sogar zu betteln, erklären, daß hier für Tiere gespendet wird, die pro Tag bis zu 30 Kilogramm Futter benötigen? Zwar gibt es auch hier Abkommen mit lokalen Geschäften zur Lieferung von nicht mehr verkaufsfähigem Obst, Gemüse und Fisch, trotzdem muß zugekauft werden.
Wenn man die Station besucht, sollte man nicht erwarten, einen "Zoo" vorzufinden. Die Gehege sind groß, die Bären haben durchaus die Möglichkeit, sich den Blicken der Besucher zu entziehen - was auch einige Tiere bei unserem Besuch taten. Hier sollte man keinesfalls enttäuscht sein, sondern sich vor Augen führen, was die Bären oft über viele Jahre (Manya war 16 Jahre lang in einen Käfig ohne Tür eingeschweißt!) durchmachen mußten. Man kann nur hoffen, daß es langfristig zu einem Umdenken in der Bevölkerung kommt. Erste Anfänge sind gemacht und teilweise scheint immerhin die Gesetzgebung mitzuziehen. Allerdings berichtete mir meine Begleitung, sie habe noch vor nicht allzu langer Zeit in den Karpaten Schilder gesehen mit der Aufschrift "Kleine Bären zu kaufen gesucht". Es gibt also noch viel zu tun.
Da wir bereits am frühen Nachmittag wieder in der Stadt waren, nutzte ich die Gelegenheit zum Besuch der Sonderausstellung "Relikte der jüdischen Welt in Galizien" im Museum für Ethnographie. Dieses ist untergebracht am pr. Svoboda im mehr als imposanten Gebäude der ehemaligen galizischen Sparkasse. Das Gebäude sieht nicht nur von außen sondern auch von innen überwältigend aus. Die Ausstellung ist insofern auch bemerkenswert, weil sie den 2. Weltkrieg überstanden hat. Ursprünglich waren die Ausstellungsstücke Teil des jüdischen Museums der Stadt, welches 1939 durch die Sowjetunion geschlossen wurde. 1941 wurde die Sammlung als Depositum ins historische Museum übergeben und überstand so die Zeiten.
Konfessionell spaltete sich das galizische Judentum vor dem 2. Weltkrieg in Orthodoxe, Reformierte und Chassidim. Während die Orthodoxen auf einer traditionellen, recht weltabgeschiedenen Lebensweise beharrten, schlossen sich jüngere Juden oft der Haskala an, einer jüdischen Reformbewegung, die sich am Geist der Aufklärung orientierte. Derart assimilierte Juden, die daher oft "Daitsche" genannt wurden, verließen die alten Synagogen und gründeten Tempel, in denen vergleichsweise nüchterne Gottesdienste in deutscher Sprache abgehalten wurden. In diesem Konflikt zwischen Weltoffenheit und Tradition vereinte beide Gruppen die Ablehnung des Chassidismus, der Mitte des 18. Jahrhunderts von Rabbi Israel Baal Schem Tow gegründet worden war und besonders auf dem Lande Anhänger hatte. Der Anteil der Juden an der Lemberger Bevölkerung schwankte zwischen 20 und 40 Prozent. Die meisten von ihnen waren kleine Händler und Handwerker, die so arm waren, daß sie "Luftmenschen" genannt wurden, weil sie von der Luft zu leben schienen. Ein Großteil der Lemberger Juden lebte nördlich der ehemaligen Stadtmauern in der Krakauer Vorstadt, die übrigen lebten im mittelalterlichen Ghetto nahe dem Marktplatz.
Da das Museum bereits um 17.30 Uhr schloß, schlenderte ich zum Markplatz, von dem laute Musik erschallte. Eine große Bühne war errichtet worden und ich sah, daß es sich um ein "Partnerfestival" zwischen Polen und der Ukraine handelte. Diverse Stände mit Informationen zu polnischen Tourismusgebieten und der Möglichkeit in Polen zu studieren, waren vertreten. Besonders beworben wurde natürlich Breslau (in welches zahlreiche Lemberger 1945 umgesiedelt wurden und wo heute das Ossolineum ist) und Niederschlesien. Nun sah ich stapelweise Broschüren zu den Herkunftsorten meiner Vorfahren: Hirschberg, Schreiberhau usw. Ein großer Stand gehörte der Stadt Przemyśl, die keine 100 km von Lviv entfernt liegt. Ganz schnell wurde klar, welche Bedeutung die Veranstaltung hat: die Bande des alten Galiziens wirken hier ganz stark, zerschlagen wurde diese kulturelle Region durch den Hitler-Stalin-Pakt. Ukrainer und Polen verstehen zudem jeweils die Sprache des anderen zu etwa 60 %, ohne sie zu gelernt zu haben. Seit dem 11.6.2017 dürfen Ukrainer visafrei in die meisten EU-Länder einreisen - wenn sie nachweisen können, ihren Aufenthalt selbst zu finanzieren. D.h. für Deutschland 45 € pro Aufenthaltstag Barmittel vorweisen können.
Was die Ukrainer von Putin halten, konnte ich an den zahlreichen Souvenirständen am Markplatz sehen: Toilettenrollen mit dem karikierten Gesicht Putins und der Aufschrift: "ПТН ПНХ" also "ПУТИН ПОШЁЛ НА ХУЙ!" (= Putin, f… dich!) und Fußabtreter mit eben dem Gesicht und der Aufschrift "ВИТИРАЙТЕ НОГИ" (Putz' die Füße ab).
An meinem vorletzten Tag in Lemberg hatte es den ganzen Vormittag geregnet. Als es aufgehört hatte, schlenderte ich in Richtung zum König Danylo Denkmal und traf dort auf einen großen Markt (Halytsky Markt), dessen Blumenstände am heutigen Samstag bestens besucht waren.
Weiter ging ich zum Rynok und wollte das Stadtmuseum besuchen. Das Haupthaus - das Schwarze Haus - war allerdings wegen Renovierung geschlossen. Also ging ich in das Nachbarhaus, auch ein Teil des Stadtmuseums. Dieses palastartige Gebäude heißt Kornjakt-Haus und ist nach seinem früheren Besitzer benannt, einem reichen Patrizier aus Kreta. Die Familie war Ende des 16. Jahrhunderts die reichste Familie der Stadt. Später gehörte das Haus der polnischen Familie Sobieski und der König Jan III. Sobieski hielt sich oft hier auf. 1686 wurde dann im Haus der Friedensvertrag zwischen Polen und Rußland unterzeichnet. Das Haus entstand im Stile der italienischen Renaissance mit entsprechendem Innenhof und zu sehen sind die königlichen Gemächer im Obergeschoß.
Zur Zeit meines Besuches diente das gesamte Haus als Kulisse für Photos mit diversen Brautpaaren, die hier posierten. Auch schon am Rathaus waren mir die vielen Hochzeitspaare aufgefallen.
Da ich gestern nur noch Zeit für die jüdische Sonderausstellung im ethnologischen Museum hatte, wollte ich heute das gesamte Museum besuchen. Die Beschriftung der Exponate ist zwar in weiten Teilen auch auf Englisch, leider erhält man aber keinen Raumplan, so daß ich auf gut Glück durch das Gebäude wanderte. Dort traf ich auf eine deutsche junge Historikerin, die auch Lviv alleine bereiste - auf den Wurzeln ihres jüdischen Großvaters, von dem bis vor kurzem niemand in der Familie gewußt hatte. Wir gingen zusammen einen Kaffee trinken und tauschten uns über unsere Eindrücke der Stadt aus.
Da ich keine Lust mehr hatte, mich in der von Reisegruppen völlig überfüllten Innenstadt zu bewegen, entschloß ich mich, mit der Tram zum Bahnhof zu fahren. Dieser liegt fast 3 km außerhalb des Stadtzentrums und die rumpelnde Straßenbahn brauchte geraume Zeit bis zum Ziel.
Der Reiseführer hatte nicht zu viel versprochen: das Gebäude aus dem Jahre 1904 ist mehr als imposant. Im Stile von Neoklassizismus und Jugendstil erbaut, bekommt man einen Eindruckt von der Bedeutung der Stadt zu k u. k Zeiten.
Einen Einblick in die geradezu schizophrenen Grenzverschiebungen der Region erhält man, wenn man liest, wie oft die Bahnstrecke nach Polen umgespurt wurde: ursprünglich hatte die Bahnstrecke europäisches Maß. Durch die Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 kam die Strecke in den Besitz der Sowjetischen Eisenbahnen, die sofort mit der Umspurung der Strecke auf russische Breitspur begann. Die Breitspur wurde nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 wiederum rückgängig gemacht und die Strecke der Deutschen Ostbahn unterstellt. Nach dem Ende des Krieges wurde die Strecke wieder durch die Sowjetischen Bahnen in Besitz genommen, diese spurte die gesamte Strecke wieder auf Breitspur zurück. Heute gibt es eine Umspurungsanlage an der Grenze zu Polen.
Ich schaute mir ausgiebig das Bahnhofsgebäude an und wanderte dann durch die Umgebung: in der Nähe gab es einen kleinen Flohmarkt, auf dem Privatleute vor allem gebrauchte Kleidung verkauften. Jenseits der großen bul. Horodotska stieß ich auf den großen Pryvokzal'nyy Markt, der bestens besucht war. Hier kauft die lokale Bevölkerung ein, die sich die Preise in den Supermärkten schlicht und einfach nicht leisten kann. Einem westlichen Besucher ist sowieso schleierhaft, wie die Bevölkerung mit diesem geringem Einkommen auskommen kann (Durchschnittseinkommen Lviv 2017: 227 € brutto, ca. 200 € netto. Im Vergleich dazu der "reiche" Osten: Donezk: 274 € brutto). Meines Erachtens sind die Preise in den kleinen Produkty Läden oder Supermärkten alles andere als preiswert: Milch und Brot, also einheimische Waren, kosten dort fast so viel wie in Deutschland.
In der Nähe des Marktes sah ich auch die ersten beiden sturzbetrunkenen Männer am hellichten Tag regungslos auf dem Bürgersteig liegen. Fast könnte man sagen, daß ich diesen Anblick, den ich aus Rußland nur zu gut kannte, in Lviv vermißt hätte. Im gesamten Stadtbereich, in dem ich mich bislang bewegt hatte, hatte ich keinen Betrunkenen gesehen, wohl an einigen Ecken Obdachlose. Hier waren sie nun allerdings.
Da es wieder anfing zu regnen, machte ich mich auf den Rückweg zu meiner Unterkunft. In der Tram traute ich dann meinen Augen nicht: ein Teil der Fahrplanbeschriftung im Innern war abgerissen und der darunter liegende Text sichtbar - dieser war auf Deutsch und das Stadtwappen daneben offenbarte die Herkunft des Wagens, nämlich Erfurt. Erfurt hatte, wie ich später dem Internet entnahm, diverse alte Wagen des Wagenparks nach Lemberg verkauft.
Leider hieß es am nächsten Tag Abschied nehmen von dieser eindrucksvollen Stadt. Der Unterschied der westlichen von der östlichen Ukraine ist augenfällig. Der Osten ist ohne jeden Zweifel russisch geprägt, der Westen könnte auch in Polen liegen. Selbst die Epoche des Habsburger Reiches wirkt noch nach u.a. in der ausgeprägten Kaffeehauskultur der Stadt. Wohin die politische Reise nach Ansicht vieler (west-) Ukrainischer Bürger gehen soll, wird an den neuen Autonummernschilder klar. Zeigten die alten links von der Nummer einen gelb-blauen Streifen, sind die neuen nach Art der EU-Schilder mit einem blauen Streifen und dem Kürzel "UA" versehen.
Die Stadt, zumindest der Innenstadtbereich, ist auffallend sauber und ohne das hier allpräsente Graffiti. Viele Bereiche sind wunderschön restauriert und die Architektur ist atemberaubend und quasi ohne Kriegsschäden. Die Sicherheitslage schätze ich als völlig entspannt ein, ich bin nicht in eine unangenehme Situation geraten. Die Straßenschilder und Wegweiser zu Sehenswürdigkeiten sind durchgängig in der Innenstadt ukrainisch / englisch beschildert. Innerhalb der Sehenswürdigkeiten sind die Beschriftungen nicht immer auf Englisch. Logischerweise ist es sehr hilfreich, wenn man zumindest kyrillische Buchstaben lesen kann. Im Touristenbereich findet man meist Personen, die über (Grund)kenntnisse im Englischen verfügen. Ansonsten behilft man sich gerne mit Übersetzungs-Apps auf Smartphones. Sehr gerne wird beim ausländischen Gast gesehen, wenn der sich einige einfache Floskeln auf Ukrainisch angeeignet hat. Personen mit Polnischkenntnissen sind bei der Ähnlichkeit der Sprachen deutlich im Vorteil. Vom Gebrauch der russischen Sprache sollte man besser Abstand nehmen - oder zumindest vorher fragen.