Am nächsten Morgen recht früh verließ ich meine schöne Wohnung mit Blick auf die Altstadt. Los ging es über eine nagelneue und bestausgebaute Schnellstraße nach Norden. Mein nächstes Ziel - nun schon im alten Ostpreußen gelegen - war das Schlachtfeld der Schlacht bei Tannenberg, polnisch Grunwald, von 1410. Hierbei handelte es sich um die größte Schlacht des Mittelalters in Zentraleuropa. Die Soldaten des Deutschen Ordens wurden von einem vereinigten polnisch-litauischen Heer vernichtend geschlagen und die Schlacht läutete den Untergang der Deutschritter ein. Die Geschichte der Schlacht bei Tannenberg bildet einen Kernpunkt des heutigen polnischen Selbstverständnisses
Direkt am auf einem Hügel gelegenen ehemaligem Schlachtfeld wurde ein nagelneues Museum durch die EU finanziert.

Tannenberg und Hohenstein / Olsztynek

Am besten mit einem Navi zu finden ist das unweit in einem Wald gelegene ehemalige Reichsehrenmal von Tannenberg (auf den Hinweis "Kriegsgräberstätte" an der Straße achten). Über einen holprigen Waldweg erreicht man die Stelle der Gedenkstätte von 1927. Der sogenannte "Sieger von Tannenberg" von 1914, Hindenburg, wurde dort 1934 beigesetzt und die Stätte diente den Nazis fortan zu pompösen Aufmärschen. 1945, kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee, wurden Hindenburgs Leichnam und der seiner Frau geborgen und in den Westen gebracht, das Denkmal anschließend gesprengt. Die Überreste verwendete man später für den Aufbau Warschaus.

Weiter ging es zum mehr als sehenswerten Freilichtmuseum in der Nähe. 1909 in Königsberg gegründet, wurde es 1939 als Platzgründen nach Hohenstein in die Nähe des Tannenberg-Denkmals verlegt - man versprach sich durch die Nähe zum Denkmal einen regen Besuch. Das Museum wurde im Krieg nicht in Mitleidenschaft gezogen und ist extrem sehenswert. Bereits 1909 hieß es, die bäuerliche Kultur Ostpreußens stehe vor dem Untergang und man müsse zu seiner Erinnerung beitragen. Das Museum wurde in den letzten Jahrzehnten ansehnlich erweitert und vermittelt einen phantastischen Eindruck über die Kultur des bäuerlichen Ostpreußens und Memellandes. Ein Verein kümmert sich um die Erhaltung. Etwas befremdlich ist die Tatsache, daß das Parken des Autos mehr kostet als der Eintritt: 20 Zloty = 5 Euro gegenüber 17 Zloty Eintritt.

Allenstein / Olsztyn

Mein nächster Stop führte mich nach Allenstein (Olsztyn), ehedem Hauptstadt des gleichnamigen Landkreises. Die Stadt ist eine Gründung des Domkapitels im überwiegend katholischen Ermland im 14. Jahrhundert. Die Altstadt, die den Krieg weitgehend unbeschädigt überstanden hatte, wurde durch die Rote Armee nach der Einnahme in Brand gesteckt und schwer beschädigt. Die Häuser rund um den Marktplatz wurden später historisierend wieder aufgebaut und die Giebel mit Verzierungen im sozialistischen Stil der 1950er und 60er Jahre versehen. An diversen Häusern, so dem Geburtshaus des Ehrenbürgers Mendelsohn, waren noch schwere Bauschäden erkennbar. Wunderschön restauriert waren z.B. die Burg Allenstein, das spätgotische Alte Rathaus und das Hohe Tor. Die sehr überschaubare Altstadt war umgeben von einem Häuserring aus wilhelminischer Zeit. Den äußersten Stadtring bilden Plattenbauten.

Weiter ging es nach Nordosten in Richtung Rastenburgs (Kętrzyn). Die Fahrt war gewöhnungsbedürftig, denn nagelneue, ebenfalls EU-finanzierte Schnellstraßen, gingen unvermittelt in ältere Landstraßen über. Für die 100 Kilometer benötigte ich somit eineinhalb Stunden.

Karlshof / Karolewo

Mein nächstes Quartier für die kommenden 9 Nächte war ein Apartment in einem historischen Haus in Karlshof (Karolewo). Der Ort war früher bekannt für seine ab 1882 nach dem Vorbild der Bodelschwinghschen Anstalten betriebenen Pflegestätten für u.a. Epileptiker und Fürsorgezöglinge, die auf einem anstaltseigenen Gut arbeiten mußten. Die untergebrachten Menschen wurden in der Nazizeit alle mutmaßlich Opfer der Euthanasie, in den leeren Gebäuden wurde ein Militärkrankenhaus untergebracht (in dem die Verletzten nach dem Hitlerattentat vom 20. Juli 1944 versorgt wurden) sowie SS-Bedienstete der nahegelegenen Wolfsschanze. Die Gutsgebäude bestehen heute noch sowie die ehemalige neogotische Anstaltskirche und ein restaurierter Wasserturm.

Für den ersten Tag meines Aufenthaltes hatte eine Besichtigungsroute im Norden und Westen Rastenburgs zusammengestellt.

Dönhoffstädt / Drogosze

Ziel war die ehemals größte Residenz in Ostpreußen, Schloß Dönhoffstädt (Drogosze). Knapp 30 Kilometer nordwestlich von Rastenburg gelegen, war das Schloß schnell erreicht. Am Eingangstor hatte ich das Glück, einen überaus freundlichen Polen aus Krakau zu treffen, der genau so eine Besichtigungstour wie ich unternahm und zudem noch ein sehr gutes Deutsch sprach. Gerade als wir und unterhielten, erschien eine ältere Dame und fragte uns, ob wir Interesse an einer Besichtigung der Anlage hätten. Selbstverständlich!

Das heutige Barockschloß wurde auf den Grundmauern einer älteren Anlage ab 1710 von der Familie Dönhoff neu erbaut und fortan ständig erweitert. Die Schloßfront alleine mißt knapp 100 Meter! Zum Ensemble gehört zudem ein englischer Landschaftspark von 75 Hektar. Die nette Dame geleitete uns ins Gebäude in den Bereich der ehemaligen Kapelle. Hier befanden sich die beiden symbolischen Sarkophage der letzten Besitzer der Familie Dönhoff, denn die männliche Linie war bereits im 19. Jahrhundert ausgestorben und das Schloß an die Familie Stolberg-Wernigerode vererbt worden. Weiter durften wir uns Innenräume anschauen: intakte Kamine, eine Wendeltreppe und noch intakte Stuckarbeiten und Deckengemälde waren zu sehen. Erstaunlicherweise blieb das Schoß im 2. Weltkrieg unzerstört. Wie überall in Ostpreußen war durch den Reichsgauleiter Erich Koch verboten worden, eine Flucht vorzubereiten oder Eigentum auszulagern. Von machen Adeligen wurde dieses Verbot in weiser Voraussicht unterlaufen, nicht aber so bei diesem Haus. Die unermeßlich wertvollen Besitztümer und das Archiv verblieben 1945 im Gebäude - und fielen dem Vandalismus der Roten Armee zum Opfer. Einige wenige gerettete Dinge finden sich heute im Allensteiner Museum.
Nach dem Krieg diente das Gebäude als landwirtschaftliches Schulungszentrum und Ferienlager, danach wurde es in Privatbesitz verkauft.
Das Gebäude machte heute einen stark vernachlässigten Eindruck. Das Dach sei aber angeblich intakt. Nach Aussage der Dame soll das Gebäude renoviert werden. Bemerkt haben wir nichts davon.

Masurischen Kanal

Nächstes Ziel waren die Schleusen am Masurischen Kanal. Dieses 50 Kilometer lange Bauwerk, erbaut zwischen 1911 und 1942, sollte einst die großen masurischen Seen mit der Ostsee verbinden, blieb wegen des Zweiten Weltkriegs aber unvollendet und befindet sie heute sowohl auf polnischer als auch russischer Seite.

Mein konkretes Ziel war die Oberschleuse Fürstenau (Śluza Leśniewo Górne), es war die zehnte und letzte Schleuse des Kanals. Sie sollte mit einer Fallhöhe von 17 m die größte Schleuse des Kanals werden, war bei Baustop jedoch nur zu 40 % fertiggestellt.
Ich benutze bei miserablem Wetter einen schmalen Trampelpfad auf der südlichen Seite des Kanals in der Hoffnung, so schneller zur Schleuse zu gelangen. Das war gar keine gute Idee, denn es hatte vorher geregnet und der steile Pfad, eher Abhang, war lehmig und glitschig wie aus Schmierseife. Das Resultat: ich rutsche aus und glitt auf dem Allerwertesten in Richtung Schleuse - und sah aus… vergessen wir es. Dafür wurde ich mit dem Anblick des großen Bauwerks entschädigt. Die Schleuse hat als besondere Attraktion die Umrisse des Reichsadlers samt Hakenkreuz vermutlich für die Ewigkeit in Beton festgehalten.

OKH Mauerwald / Mamerki

Weiter ging es zu den nahegelegenen ehemaligen Bunkern des Oberkommandos des Heeres (OKH) Mauerwald (Mamerki), Teil eines großen Bunkersystems in der Region. Für dieses wurde überall in der Umgebung die Reklametrommel gerührt - allerdings gab es am Parkplatz keine einzige Übersichtskarte über den riesigen Komplex. Erst wenn man auf gut Glück das "Museum" erreichte, sah man einen Lageplan. Das ist mehr als ärgerlich, da das gesamte Gelände durch dichten Wald völlig unübersichtlich ist.
Am Parkplatz 1 bestand die Möglichkeit, gegen Entgelt einen Bunker zu betreten und durch einen Tunnel zu gehen, was man unbedingt machen sollte. Vom Parkplatz aus geht es über die Zufahrtsstraße zum Parkplatz 2 und den dahinter befindlichen, riesigen Hochbunkern mitten im Wald. Im Gegensatz zur Wolfsschanze wurde hier nichts gesprengt und man erhält einen guten Eindruck der Bunkeranlagen. Ich ließ mir die Möglichkeit nicht entgehen und besichtigte - ausgerüstet mit einer Taschenlampe - zahlreiche Gebäude.

Steinort / Sztynort

Nun fuhr ich nach Steinort (Sztynort), dem wohl bekanntesten Schloß der Region und Heimat des Hitler-Attentäters Heinrich Graf von Lehndorff, der 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde.
Das Schloß war früher neben Dönhoffstädt und Schlobitten eines der schönsten in Ostpreußen. Das Hauptgebäude war z.Zt. meines Besuchs eine riesige Baustelle. Nachdem die Anlage diverse Vorbesitzer komplett verfallen ließen, kaufte es 2009 die "Polnisch-Deutsche Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz". U.a. die TU Dresden beteiligt sich an die umfangreichen Sanierungsarbeiten. Von außen war bislang in erster Linie nur das mit roter Dachpappe eingedeckte Dach zu sehen.
Da ich unbedingt in den zum Schloß gehörenden Landschaftspark wollte, um mir die uralten Eichen - angepflanzt im 17. Jahrhundert - anzuschauen, suchte ich nach einem Parkplatz. Die unmittelbare Umgebung es Schlosses war aber komplett abgesperrt, andere Bereiche mit Schildern "Privatgelände" gekennzeichnet und angeblich zu zahlenden 50 Zloty (ca. 11 €). Ich fand doch ein Plätzchen in Schloßnähe, es sah zudem nicht so aus, als kontrolliere hier irgend jemand, zumal es wie aus Sturzbächen regnete.

Die alte Eichenallee und den komplett verwilderten Park findet man, wenn man zwischen Schloß und verfallenen Wirtschaftsgebäuden hindurch geht. Allerdings waren zahlreiche der gigantischen Baum-Methusalems in keinem guten Zustand…
Den unweit des Schlosses am kleinen Steinortsee gelegenen Jachthafen besuchte ich wegen des Regens nicht.

Angerapp / Rapa

Bei schönem Sonnenschein am nächsten Tag entschloß ich mich zu einer längeren Tour in den Nordosten Rastenburgs. Es sollte zur bekannten Pyramide von Rapa gehen und für die 70 Kilometer lange Strecke benötigte ich gut zwei Stunden Fahrtzeit.
Friedrich Wilhelm Johann von Fahrenheid ließ 1795 mitten im Wald eine kleine Pyramide als zukünftige Familiengrabstätte errichten und liegt nun hier nebst Familienangehörigen begraben. Bis vor zwei Jahren war das Mausoleum in denkbar schlechtem Zustand, nachdem russische Soldaten 1945 die Sarkophage geöffnet und die darin enthaltenen mumifizierten Leichen enthauptet hatten. Entsprechende Bilder finden sich im Internet. Bei meinem Besuch war das Gebäude in best-renoviertem Zustand und ein Blick durch die Fenster zeigte, daß man die Särge inzwischen auch geschlossen hat. Ärgerlich war, daß ein Einheimischer mit wässrig-alkoholischen Augen Besucher um Geld anbettelte - schließlich schaue man ja durch die Fenster und dafür wolle er Geld...

Mein nächstes Ziel war nur 5 Kilometer entfernt, führte mich aber buchstäblich in eine andere Welt. Kurz hinter der Pyramide, im Ort Angerapp / Rapa, begann eine alte Feldsteinstraße im Originalzustand von 1900. Sie führte immer weiter nach Norden durch Agrarlandschaft. Wo war ich denn hierhin geraten? Auf den zum Teil abgeernteten Getreidefeldern sah ich eine Gruppe von etwa 50 Kranichen. Sammelten die sich hier bereits für ihren langen Weg in den Süden? Die Straße zog und zog sich. Wer immer einen Vorstellung vom alten Ostpreußen nachvollziehen will, ist hier bestens aufgehoben. Nach einigen Kilometern auf der Straße, die übrigens in besten Zustand ohne Spurrillen oder Schlaglöchern war, erreichte ich Klein Medunischken (Miedunsiszki Małe). Ich konnte der Versuchung nicht wiederstehen in der Häuseransammlung einen unbefestigten Feldweg noch weiter nach Norden zu fahren. Hier irgendwo mußte die russische Grenze sein. Richtig! Nach vielleicht einem Kilometer sah ich eine rot-weiße Barke, eine Überwachungskamera (!) und einen gegrubberten Landstreifen. Diesseits und jenseits unübersehbar ein polnischer und russischer Grenzpfahl. Willkommen an der EU-Außengrenze! Wenn einem die Perversität dieser Grenze vor Augen geführt werden soll, dann hier. Eine historisch gewachsene Landschaft war 1945 auf dem grünen Tisch geteilt worden. Auf Satellitenbildern kann man noch gut den weiteren Verlauf der alten Wege auf heute russisches Territorium sehen.

Groß Medunischken / Mieduniszki Wielkie

Gedankenverloren fuhr ich zurück zu den Häusern und von dort - anhand von Geokoordinaten - zur Ruine des neobarocken Gutshauses der Familie von Altenstadt. Vorher überquerte ich das Flüßchen Angerapp (Węgorapa) mit einer Sperranlage noch aus deutscher Zeit. Das Gewässer fließt nach Norden - zur Grenze…
Graf Friedrich von Fahrenheit, der Erbauer der Pyramide, kaufte 1798 Familie Döhnhoff den Gutskomplex Beynuhnen (heute russisch Uljanoskoje) ab, zu dem auch Groß Medunischken gehörte. In Beynuhnen errichtete er ein neoklassizistisches Schloß, welches 1945 ausbrannte und dessen Ruinen sich nur unweit nördlich der heutigen Grenze befinden.
Das Herrenhaus in Medunischken war immer vom Pech verfolgt. Als Folge des in der Region heftig tobenden 1. Weltkrieges brannte es aus und wurde von den Besitzern wiederaufgebaut. 1922 brannte es durch einen Kaminbrand erneut aus und wurde wieder aufgebaut. Erstaunlicherweise überstand es dann den 2. Weltkrieg unbeschadet und wurde bis zur Wende durch polnische Institutionen genutzt. 2001, schon verfallen, wollte ein Investor dem Gebäude neues Leben einhauchen, es brannte aber 2004 erneut ab und zeigte heute ein Bild des Jammers, nachdem es auch noch ausgeschlachtet wurde. Ob es jemals erneut gerettet wird? Auch der Park ist komplett zugewuchert, nur die uralten dort wachsenden Eichen zeugen noch von vergangenen Zeiten. Die angrenzenden Wirtschaftsgebäude waren ebenfalls in einem erbarmungswürdigen Zustand.
Um weiter die unglaublich urwüchsige Landschaft zu genießen, entschloß ich mich, einen Umweg zu meinem nächsten Ziel zu nehmen. Die Straße, die teilweise weiter aus Feldkieselsteinen, teilweise aus Betonelementen bestand, zog sich hin bis zum Weiler Dombrowken (Dabrowka). Irgendwo hinter dem Ort mit verfallenem Herrenhaus (wie ich später las von 1862, auch aus dem Besitz der von Fahrenheit) wurde ich von einer polnischen Grenzkontrolle gestoppt. Für die beiden - sehr netten - Beamten war ich vermutlich in dieser Einsamkeit das Highlight des Tages. Die Frau sprach recht gut Englisch und nachdem ich als "unbedenklich" eingestuft worden war, konnte ich mich etwas unterhalten. Was ich denn hier machen würde? Oh, Frau Doktor. Ja dann… Auf meine Frage, ob sie jemals schon auf der anderen Seite der Grenze gewesen sei, die quasi direkt hinter Dabrowka verläuft, winkte sie nur ab. Mit dem ehemaligen großen Bruderstaat wollte man hier nichts mehr zu tun haben.