Seitdem ich 1973-74, noch als Kind, von den Prozessen nach der Besetzung der Gedenkstätte Wounded Knee (South Dakota) durch Aktivisten des American Indian Movement (AIM) in den Medien gehört hatte, interessierte ich mich für nordamerikanische Indianer jenseits von Karl May Romantik. In den letzten Jahren hatte ich schon diverse Male die Gelegenheit, Indianerreservationen in den USA zu besuchen. Nie ergab sich allerdings die Möglichkeit, die Schauplätze der letzten Auseinandersetzungen zwischen den nordamerikanischen Ureinwohnern und der weißen Übermacht in den nördlichen Great Plains zu besuchen. In diesem Jahr, im Mai 2006, auch noch kurz vor dem 130. Jubiläum der Schlacht von Little Bighorn, in der Lt. Col. George Custer vernichtend geschlagen wurde (25.6.1876), sollte sich die Möglichkeit ergeben. Monate zuvor hatte ich mich mit einer detaillierten Planung beschäftigt: einer Route entlang der wichtigsten Museen, historischen Schauplätze, Reservationen und nicht zuletzt der National- und State Parks. Die Strecke führte von Billings in Montana über Wyoming nach South Dakota. Von dort kurz nach Nebraska und weiter nach North Dakota. Von dessen Hauptstadt Bismarck ging es per Flugzeug nach Denver, Colorado, um dort noch etwas auszuspannen. Eigentlich war noch eine Weiterfahrt von Bismarck nach Medora in North Dakota geplant. Dies scheiterte aber daran, daß wir den in Montana angemieteten Wagen aus Montana nicht dort abgeben konnten. Solche Probleme, einen Mietwagen in einen anderen US-Staat mitzunehmen, hatten wir noch nie zuvor. Ein Indiz für die völlige Tourismusferne des Gebietes. So mußten wir also statt des Tages in North Dakota einen weiteren Tag in Denver verbringen....
Da alle Direktflüge nach Denver, der Drehscheibe des Westens, ausgebucht waren, mußten wir von unserem Heimatflughafen über Frankfurt erst einmal nach Portland/ Oregon fliegen. In dem großen Lufthansa Airbus mit "Sleeper beds" dauerte der Flug 10,5 Stunden. Nachdem wir schon in Frankfurt 3 Stunden Wartezeit totschlagen mußten, blühte uns das gleiche in Portland. Dann hieß es bei strahlendem Sonnenschein einsteigen in eine ziemliche kleine Turboprop Maschine, die uns nach Billings, Montana, bringen sollte. Der Flug über Portland, den Bonneville Dam und das Hinterland erinnerte mich an unsere Fahrt dorthin im Jahre 1998. Weiter ging es über karges Land bis wir fast 1,5 Stunden geflogen waren. Ein Blick aus dem Flugzeugfenster beschied uns nichts Gutes: ich sah schwarze Wolkenbänke vor uns. Da wir mit der kleinen Maschine unterhalb der Wolkendecke flogen, wurde mir mulmig. Kurz darauf ging es los: der Kapitän zog das Flugzeug hoch, dann wieder runter, flog offenbar in Bögen. Die Motoren heulten auf, wurden laut, wir schmierten zur Seite ab, um dann zur anderen Seite zu pendeln. Die Passagiere stöhnten auf. So ging es 30 Minuten, die sich endlos hinzogen. Der Kapitän versuchte offenbar, diverse Gewitter in der Gegend zu umfliegen, was nur teilweise gelang. Ich konnte schon gar nicht mehr aus dem Fenster auf die wankende Landschaft draußen schauen und wollte nur noch festen Boden unter den Füßen haben. Endlich landeten wir - nur 5 Minuten darauf zog unmittelbar über den Flughafen ein gewaltiges Gewitter mit Sturmböen. Es hätte also noch schlimmer werden können!
Mit dem Shuttle ging es zur Mietwagenstation in Billings, und mit dem Auto dann weiter zum Hotel. Nach 23 Stunden auf den Beinen waren wir froh, endlich angekommen zu sein.
Hauptziel des Tages war das Little Bighorn Schlachtfeld. Über den Interstate 90 ging es nach Südosten durch die Crow Reservation. Wir machten bei nunmehr Temperaturen von 30 Grad einen intensiven Abstecher nach Crow Agency. Nach amerikanischem Standard solide Holzhäuser wechselten sich mit verkommenen Trailern ab, um die herum allerlei verrostete Autos und Dinge undefinierbarer Herkunft lagen. Zentrum des Ortes war ein kleiner "Tante Emma" Laden, vor dem einige Einheimische standen, die der weißen Klischeevorstellung eines Indianers entsprachen: sehr dunkler Teint, lange schwarze Haare. Ein wenig weiter fiel ein scheinbar recht neues, großes Schulgebäude ins Auge. Da wir auf einem Sonntag hier waren, waren keine Schüler zu sehen. Vor dem Gebäude hatte man über Sitzplätzen Tafeln mit den Aussagen des berühmten Crow-Häuptlings Plenty Coups angebracht: "With education, we are the White man's equal". Durch ein sehr verkommenes Viertel des recht kleinen Ortes gelangten wir zurück in Richtung des Interstates. Dort hatten die Crow ein Monument samt kleinem Park angelegt, welches den gefallenen Angehörigen des Stammes aller Kriege, vom 18. Jahrhundert bis zum laufenden Irakkrieg, gewidmet war. Schon hier fiel die in Relation zur Zahl der Stammesangehörigen hohe Zahl an verstorbenen Soldaten auf. Die ehemaligen Krieger aller Stämme sind heute zu nicht geringen Teilen Angehörige der US-Armee und auf allen Kriegsschauplätzen zu finden. Gegenüber dem Denkmal hatte man einen überdimensionalen Coupstick aufgestellt - vermutlich um den Bogen in die Vergangenheit zu spannen. Auffällig waren in dem Ort die zahlreichen Kirchen, die in keiner Relation zur Größe des Ortes standen. Schon seit Beginn der Reservationszeiten hatten die verschiedenen christlichen Religionen ganze Arbeit geleistet. Die vielen Autos vor einigen der Kirchen an dem Sonntagmittag ließ auf einen regen Kirchgang der Einwohner schließen.
Weiter ging es durch den sich hinziehenden Ort. Dort lag die Hauptattraktion für Weiße: das Spielkasino. Seit einer Gesetzesänderung im Jahre 1988 dürfen auf dem exterritorialen Gelände der Indianerreservationen Kasinos gebaut werden, die sich vielfach zu "cash cows" entwickelt haben und den zumeist extrem strukturschwachen Reservaten zu erklecklichen Einkommen und vor allem auch zu Arbeitsplätzen zu verhelfen. Arbeitslosenquoten von 80-90 % sind auf Reservaten an der Tagesordnung. Auffällig waren in dem Ort auch das sehr neue und große Hospital des Indian Health Service (IHS) und das Care Center für alte Leute. Neben dem Kasino verkaufte eine stammeseigener Trading Post indianisches Kunsthandwerk und eine Menge Kitsch. Gut war der Laden in Sachen Spezialliteratur sortiert. Die Preise waren recht happig, da direkt am Geschäft vorbei die Zufahrtsstraße zum Custer Battlefield liegt, ein "Muß" für jeden Besucher in der Region - wenn wohl auch aus unterschiedlichen Beweggründen.
Die Schlacht am Little Bighorn ist jedem, der sich mit amerikanischer und indianischer Geschichte beschäftigt, geläufig. Hier wurde am 25. Juni 1876 Lt. Colonel George A. Custer und über 600 Männer seiner 7. Kavallerie von einem vereinigten Kontingent Lakota (Sioux) und Cheyenne vernichtend geschlagen. Es war das einzige Mal, wo sich die meist völlig verfeindeten Stämme der Plainsindianer gegen das Vordringen der Weißen zusammengeschlossen hatten und diese dann auch schlugen. Sitting Bull, der berühmte Lakota Häuptling, hatte vor dem Kampf eine Vision gehabt, daß die Weißen vernichtend geschlagen würden - er sollte recht behalten. Für die Weißen war und ist, z.T. wohl auch heute noch, diese Schlacht ein Trauma. Custer, ein höchst schwieriger Charakter, wird seitdem zum Helden hochstilisiert, der sein Leben in einem Heroenhaften Kampf gegen die "Roten Bestien" hingab. Sein Name taucht in zig Orts-, Park- und Landschaftsbezeichungen auf. Jede Station seines Lebens wurde und wird durchleuchtet und man findet Museen mit Devotionalien von ihm und dem Kampf wohin man schaut. Nach Bezahlung von 10 $ Eintritt durften wir auch das National Monument betreten. Unterhalb des "last stand" genannten Hügels findet sich ein Museum mit Ausstellungsgegenständen, die man nach Ende des Kampfes auf dem Schlachtfeld gefunden hat. Dankenswerterweise wird nun auch hier versucht, nicht nur die weiße Sicht des Kampfes zu präsentieren, sondern auch die indianische. U.a. sind - im typischen Stile der Plainsindianer angefertigte - Skizzen des Kampfes von überlebenden Indianern angefertigt und ausgestellt worden.
Ein Weg führt hinauf auf den Hügel, auf dem Custer und seine letzten Mannen starben. Für jeden Toten wurde ein kleiner Grabstein aufgestellt und Photos dokumentieren, wie man schon 1876 und danach begann, nach Kampfesüberresten zu suchen. Erst vor einigen Jahren wurde knapp unterhalb des Hügels ein Denkmal für die teilnehmenden Indianer an dem Kampf errichtet. Erstaunlicherweise fanden sich auch die Stämme der Crow und Arikara dort aufgelistet. Die Crow, traditionelle Erzfeinde der Lakota, hatten schon recht früh angefangen, als Scouts für die US-Armee zu arbeiten. Natürlich waren sie auch in diesem Juni dabei und hatten Custer eindringlich vor dem riesigen Camp der Lakota und Cheyenne mit Über 6000 Personen gewarnt. Dieser wollte aber (wie schon oft zuvor) nicht hören.
Mir schossen an diesem glutheißen Tag die zahlreichen Schilderungen des Kampfes durch den Kopf, die ich gelesen hatte. Oft wird er als Auseinandersetzung zwischen Custer und dem Lakota Häuptling Sitting Bull gesehen. Dieser war zwar anwesend, konnte wegen einer Verletzung aber nicht selbst am Kampf teilnehmen. Dies war nun vor fast exakt auf den Tag genau vor 130 Jahren passiert - 1876 stellte den Höhepunkt der Indianerkriege in den nördlichen Plains dar. Wenn man sich überlegt, welche dramatische Entwicklung die Indianer in diesen wenigen Jahren durchlaufen haben, läuft es kalt über den Rücken. Mir fiel sofort das unweit gelegene Kasino ein...
Einen Ort weiter, in Garryowen, ebenfalls noch auf der Reservation, aßen wir in einem Fast Food Restaurant, wo uns eine schwerst übergewichtige junge Crow lustlos bediente. Als sie mitbekam, daß wir keine Amerikaner waren, fragte sie tatsächlich, ob man in Deutschland auch mit Dollar bezahle? Ich hatte so meine Zweifel daran, ob sie überhaupt wußte, wo Deutschland denn liegt... Wir hatten hier auch Gelegenheit, die anderen eintrudelnden Gäste des Ladens zu beobachten. Eine Crow um die 30 mit langen schwarzen Haar und distinktiv indianischem Aussehen, einige junge Männer mit kurzen Haaren, Hip Hop Klamotten und entsprechendem Auftreten und einige ebenfalls extrem übergewichtige junge Frauen, die sich riesige Portionen Hamburger bestellten. Hier verkehrten offensichtlich keine Touristen, wir wurden aber mehr oder weniger ignoriert. Nebenan befand sich ein kleines Museum, welches ebenfalls in erster Linie von Custer und zahlreichen, auf dem Schlachtfeld gefundenen Artefakten lebte.
Sehr nachdenklich setzten wir unseren Weg fort. Es ging von Lodge Grass quer über die Reservation, wo ich zu meinem Entsetzen feststellen mußte, daß jegliche Beschilderung fehlte. In St. Xavier fragte ich mich bei Einheimischen durch, dann ging es in die unendliche Weite der hügeligen Prärielandschaft, die wir stundenlang durchquerten, ohne irgendwelche Anzeichen von Leben zu entdecken. Ganz selten tauchte einmal eine einsame Rinderherde auf. Irgendwo im Nirwana durchquerten wir einen "Ort", bestehend auf vielleicht 10 Häusern und einer Schule, um dann wieder für Stunden durch unendliche Weite zu fahren. Irgendwann erreichten wir Pryor, den größten Ort am westlichen Rand der Reservation. Der schon erwähnte Crow Häuptling Plenty Coups hatte hier bis zu seinem Tode gewohnt und man konnte sein Block-Wohnhaus besichtigen. Ebenfalls hatte er 1928 dem amerikanischen Staat den Plenty Coups State Park geschenkt, ein kleines Erholungsgebiet samt angeschlossenem Museum. Der dort arbeitende weiße Ranger war deutschstämmig und verwickelte uns sofort in ein Gespräch. Er erläuterte uns, warum wir im Park die zahlreichen Crow gesehen hatten. Sie hielten ein Meeting ab. Innerhalb der Reservation, allerdings auf US-Gebiet, lag der Yellowtail Dam, mit dem Elektrizität erzeugt wurde. Nun sollte eine neue Hochspannungsleitung über Reservatsgebiet gezogen werden gegen eine Entschädigung. Wie schon vor 150 Jahren war auch heute der Stamm aufgespalten in Traditionalisten und Moderne, die sich wegen der Thematik stritten. Wir hielten uns von dem Treffen wohlweislich fern und besichtigten statt dessen Plenty Coups Haus.
Von Pryor, einem Ort, der wieder gekennzeichnet war durch eine recht moderne Schule und sowohl gepflegte als auch total verkommene Unterkünfte, ging es über eine gravel road durch rauhe Landschaft hinaus aus dem Reservat. Die Reservatsgrenze war nicht durch ein Schild, sondern durch ab hier intensiv betriebenen Ackerbau gekennzeichnet. Wir erreichten den Highway 310 bei Edgar, der sich langsam ansteigend nach Red Lodge zog. An dem Weg fanden sich in recht kurzen Abständen kleine Ortschaften und die Landschaft war ganz anders als auf dem Reservat.
Wir checkten in Red Lodge in einem recht einfachen Motel ein und gingen dann zu Fuß nach "Downtown", was sich als recht pittoresk entpuppte. 1884 als Minenstadt gegründet, ist das Städtchen mit der original Main Street heute Skiort. Das Pollard Hotel von 1899 verbreitet noch das Flair vergangener Tage.