Geschichte der Stadt Lengerich/Westfalen

von Helmut Denter

Im Schnittpunkt verschiedener, zum Teil schon früh sehr bedeutender Verkehrswege, ausgestattet mit den Vorzügen der Lage auf der Sonnenterrasse und am Fuße des Südhanges des Teutoburger Waldes, nimmt Lengerich wohl zu recht die Bezeichnung „Teutoburger-Wald-Stadt" für sich in Anspruch.

Von den Höhen des Teutos (bis zu 205 m ü. M.) genießt man nach Süden den herrlichen Ausblick ins weite, flache Münsterland und ist möglicherweise bei einem Blick nach Norden ins benachbarte Niedersachsen überrascht von den Reizen der in diesem Bereich so abwechslungsreichen Hügellandschaft.

Als unbestrittenen Schwerpunkt in jeder Beziehung für den Ostteil des Kreises Tecklenburg und darüber hinaus erfreut man sich in Lengerich der soliden Krisenfestigkeit einer reich gefächerten Industrie. Die Erinnerung an eine Feststellung des Leggeassistenten Friedrich Meese drängt sich bei dieser Gelegenheit auf. Danach wurde 1790 in den „Historisch Geographischen Nachrichten, die Grafschaft Tecklenburg betreffend" berichtet: „Die Stadt Lengerich zählt 861 Menschen in 153 Häusern. Es ist der beste, wohlhabendste Ort der Grafschaft."

Bei einem flüchtigen Streifzug durch die Geschichte dieser heute für ihre Umgebung auf den verschiedensten Gebieten so bedeutungsvollen Kleinstadt stellt man fest:

Seit mindestens 4000 Jahren hat es hier am Fuße des Teutoburger Waldes eine Besiedlung und damit „Lengericher" gegeben. Durch inzwischen zahlreiche Funde bei Ausgrabungen ist insbesondere die Frühzeit nahezu lückenlos belegt. Während dann die Römerzeit und die frühe Christianisierung kaum Spuren hinterlassen haben, tauchen aus den Jahren 1050 und 1088 die ersten Urkunden auf, in denen die Bauerschaften Ringel und Hohne genannt werden. Den Grund für das Feiern des 800jährigen Bestehens gab eine Nachricht aus dem Jahre 1147. Im März bestätigte Kaiser Konrad III. der Äbtissin des Damenstifts Herford ihre Besitzungen und Privilegien. Dabei wird auch der Ort erwähnt, der sich heute Lengerich nennt. Zwischen 1320 und 1330 machte Lengerich erstmalig als Wallfahrtsort von sich reden. Die Verehrung der heiligen Margarethe mit Brunnen und wundertätigem Holzbildnis und die Funde bei Ausgrabungen in der Stadtkirche lassen darauf schließen, daß sich sicherlich schon in vorchristlicher Zeit an dieser Stelle ein germanisches Heiligtum befand. Bekanntermaßen wurden nämlich vornehmlich überall dort Kirchen errichtet, wo die Menschen von altersher zu Kulthandlungen zusammenströmten. Ein Hauch von Weltgeschichte wehte im 17. Jahrhundert durch den Ort, als in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges in Lengerich nicht gerade unbedeutende Vorverhandlungen für den Westfälischen Frieden geführt wurden. In die Geschichte eingegangen ist jedenfalls das Lengericher Conclusium vom 11.7.1645. Im Jahre 1727 wurden den Lengerichern durch Friedrich Wilhelm I. Stadtrechte verliehen. Mit der Stadtwerdung erhielt Lengerich audi die erste bescheidene Kommunalverwaltung. Ein Magistrat, dem zwei Bürgermeister, vier Ratsherren und ein Polizist angehörten, leitete die Geschicke der damals nur 400 Einwohner zählenden Stadt.

Von der bedächtigen Ackerbürgerstadt vergangener Jahrhunderte entwickelte sich zögernd zunächst und dann immer schneller Lengerich zu einer recht vielseitigen Industriestadt mit heute [1973] inzwischen rund 22 000 Einwohnern. Schon im frühen Mittelalter erhielt Lengerich durch die günstige Lage im Verkehrsraum seine zentralörtliche Bedeutung. Am Schnittpunkt zweier bedeutender Handelsstraßen, dem Deetweg, der am Südhang des Teutoburger Waldes verlief, und der Nord-Süd-Verbindung zwischen Osnabrück und Münster waren wesentliche Voraussetzungen für das Entstehen eines Handels- und Marktortes gegeben. Zu diesem Straßenkreuz des Mittelalters — inzwischen ersetzt durch die Landstraßen 591 und 555 — gesellte sich bis zur Wende des vorigen Jahrhunderts das heute noch vorhandene Schienenkreuz der Teutoburger-Wald-Eisenbahn Ibbenbüren-Gütersloh und der (...) Bundesbahnlinie Ruhrgebiet-Hamburg. Tief unter der alten Paßstraße „Galgenknapp" durchbricht dieser noch heute bedeutende Schienenweg mit dem nördlichsten Tunnel Deutschlands den Höhenzug des Teutoburger Waldes unmittelbar an der Grenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. (...)

Bei der Suche nach dem Ursprung der heute vorhandenen Wirtschaftsstruktur der Stadt Lengerich findet man in Aufzeichnungen aus dem 16. Jahrhundert die ersten Angaben über Händler und Gewerbetreibende. Neben landwirtschaftlichen Erzeugnissen wurden vor allem Wolle und Tierfelle gehandelt. Die ersten Wassermühlen, aber auch Schuhmacher, Schreiner und Schmiede werden genannt. 1662 wird sogar eine Papiermühle in Betrieb genommen. Gut 100 Jahre früher allerdings hört man von einem Lengericher Nationalgetränk, dem sauren Grüsing oder Gräsing, einem Altbier, das in vielen Häusern gebraut wurde.

In der Mitte des 17. Jahrhunderts soll der Nuntius des Papstes Fabio Chigi, der spätere Papst Alexander VII., anläßlich seines Besuches in Lengerich mit einem großen Pokal des selbstgebrauten Altbieres begrüßt worden sein. Nachdem er einen herzhaften Trunk getan hatte, verzog er gar nicht hochherrschaftlich seine Miene und sagte zu seinem Gefolge: „Adde paulum sulphuris et erit potus infernalis", d. h. „Noch ein wenig Schwefel, und es ist ein Höllengetränk." Ob dieses Urteil dazu beigetragen hat, daß man in Lengerich das Brauen dieses einst so beliebten Getränkes inzwischen aufgegeben hat, ist der Überlieferung nicht zu entnehmen.

Von den Anfängen der Industrialisierung kann erst in der preußischen Zeit gesprochen werden. Für das vorige Jahrhundert werden in den alten Aufzeichnungen Zichorienfabriken, eine Seifenfabrik und eine Tabakfabrik erwähnt. Die blühende Hausleinenindustrie, die Webekammachereien und die Blaufärbereien verschwanden mit dem Einsetzen der Mechanisierung im Textilgewerbe. Durch ein wahres „Lengericher Wirtschaftswunder des vorigen Jahrhunderts" blieben den Bürgern dieser Stadt jedoch Arbeitslosigkeit, Hungersnöte und Krawalle erspart (...)