Viele Knechte bekamen von Ostern bis Johanni Urlaub und gingen dann nach Hardenberg. Hardenberg ist ein Dorf in Holland mitten im Torfmoor. In Ladbergen gab es kaum einen Bauernhof, von dem nicht ein Sohn oder ein Knecht nach Hardenberg ging. Mein Bruder Wilhelm ist auch fünfmal mitgewesen. Als er zum ersten Mal ging, konnte er es nicht aushaken. Wir saßen Pfingsten gerade beim Abendessen. Da sagte meine Mutter: „Da draußen geht einer, das ist ja gerade, als wen es unser Wilhelm wäre, wenn ihm nur nichts passiert ist." Da kam er auch schon herein und sah so elend aus; wir kriegten einen Schrecken, als wir ihn sahen. Ja, es war eine schwere Arbeit in Hardenberg, die nicht jeder aushalten konnte.
Das Arbeitsfeld war ein großes Torfmoor, das den Hardenberger Bauern gehörte. Jeder „Baas" baut auf seinem Anteil eine „Tente", eine runde Hütte mit kegelförmigem Dach für die ,,Muffen". „Muffrika" war Deutschland; die Muffen waren die deutschen Wanderarbeiter. Jedesmal 8-11 Mann vermieteten sich an den Baas. Sie bildeten eine Arbeitsgemeinschaft, einen „Pflug". Sie wohnten und schliefen in derTente. Der Baas stellte ihnen soviel Torf zur Verfügung, daß sie Tag und Nacht heizen konnten. Nur des Sonntags wechselten sie ihre Kleider. Sie schliefen unausgekleidet unter wollenen Decken. Dabei lagen sie auf Stroh um das Feuer herum mit dem Kopf nach außen, sodaß die Füße immer gewärmt waren. Auf der Spitze des Daches fehlten einige Ziegel, das war der Ersatz für den Schornstein. Die Tente war deshalb beständig mit dichtem, beißendem Torfrauch gefüllt. Wenn die Leute in die Heimat zurückkamen, sahen sie ganz dunkelbraun aus wie geräucherte Heringe. In den Kleidern trugen sie den Torfgeruch noch monatelang bei sich. Ihre Hemden waren so schwarz, daß die Frauen sie kaum wieder reinigen konnten.
Jeder Hollandgänger nahm aus der Heimat soviel Lebensmittel mit, wie er irgendwie schleppen konnte, besonders auch Speck und Eier. In Ladbergen gab es einige Bauern, die die Hollandgänger mit Gespannen bis ins Moor begleiteten und ihnen das Gepäck nachführten. Im übrigen sorgte der Baas für die Verpflegung der Leute. Er hatte ein Konto bei einem der Kaufleute im Ort. Zu dem gingen dann die Leute und holten sich, was sie gebrauchten. Vor allem gebrauchten sie dicken Speck und gutes Buchweizenmehl, alles andere war Nebensache. Nur sonntags kochten und aßen sie gemeinsam, dann gab es als Festtagsgericht Erbsen- oder Bohnensuppe mit Kartoffeln und Speck darin. Den Speck nahm jeder von seinem besonderen Vorrat. Nachher erkannte er sein Stück wieder an der bestimmten Zahl von Kerben, die er in die Schwarte geschnitten hatte. Das Sonntagsmahl wurde in dem „Hund" gekocht. Das war ein großer eiserner Topf, der die Woche über draußen an der Hütte an einem Nagel hing. An den Arbeitstagen nahmen sie sich nicht die Zeit zu ordentlichem und gemeinschaftlichen Kochen. Dann sorgte jeder für sich allein. Damit in der Arbeit keine Pause entstand, gingen sie abwechselnd einzeln in die Hütte und machten sich das Essen fertig. Es gab fast immer nur dicken Buchweizenpfannkuchen und Kaffee. Jeder tat soviel Speck hinein, wie er vertragen konnte. Wenn er mit dem Essen fertig war, schürte er das Feuer und stellte die Pfanne zurecht für den, der nach ihm kam. So ging das den ganzen Tag. Während des Essens ruhten sie sich aus; eine andere Ruhepause gönnten sie sich nicht. Ihre Kisten verschlossen sie nicht, sie konnten sich aufeinander verlassen. Mein Bruder erzählte, einmal hätten sie aber doch ein schwarzes Schaf unter sich gehabt. Ihr Speck und Mehl war immer so auffallend schnell verbraucht gewesen. Da hatten sie eines Tages alle ihre Mehlsäckchen leer gemacht und in eine Kiste einen Beutel voll Kalkmehl gestellt. Als nun der Dieb die Pfanne gefüllt hatte, waren sie alle in die Hütte gelaufen, hatten ihn auf frischer Tat ertappt, ganz derbe verprügelt und mit Sehimpf und Schande nach Hause gejagt. Mein Bruder wollte mir aber den Namen des Diebes nicht nennen.
Alle gingen zur Arbeit ins Moor hinaus, sobald der Tag graute. Dann wurde den ganzen Tag hindurch bis zur Dunkelheit ohne Unterbrechung gearbeitet. Der Pflug bestand aus zwei „Stechern", zwei „Bänkern", dem „Haker", dem „Korrsetter", mehreren „Kreuern" und dem „Schlichter". Den wichtigsten Posten beim Pflug hatten die beiden Stecher. Von ihnen hing das Tempo der Arbeit, also auch die Höhe der gemeinsamen Leistung ab. Der eine Stecher stand oben auf der Torfbank und stieß mit einem spatenförmigen Eisen wuchtig hinein. So zerteilte er die Torfbank in senkrechte Säulen. Der zweite Stecher stand neben der Bank und stieß mit einem ähnlichen, aber leichteren Eisen waagerecht in die Säulen hinein und zerteilte sie in einzelne Torfstücke. Von gut eingearbeiteten Stechern verlangte man, daß alle Torfstücke peinlich genau die gleiche Form und Größe hatten. Die Arbeit der Stecher war so anstrengend, daß auch die kräftigsten Männer sie nur wenige Stunden ohne Unterbrechung aushaken konnten. Darum mußten sie öfter abgelöst werden. Das geschah durch die beiden „Bänker", die zwischendurch die Torfbank in Ordnung hielten. Neben den Stechern arbeitete der „Hacker". Seinen Namen hatte er von dem Handwerkszeug, das er gebrauchte. Mit einem eisernen Haken faßte er die von den Stechern aus der Torfbank gelösten Stücke und zog sie nach oben. Dort nahm sie der Korrsetter (Karrensetzer) in Empfang und packte sie kunstgerecht auf eine bereitstehendc Schiebkarre. War die vorgeschriebene Anzahl aufgepackt, so kam der erste „Kreuer", setzte eine leere Schiebkarre hin und schob die volle auf den Lagerplatz, wo die Torfslücke in Wind und Sonne trockneten. Dort arbeitete der „Schlichter", der den Lagerplatz und die Zufuhrwege schlichten, d.h. einebnen mußte. Die Anzahl der Kreuer richtete sich nach der Entfernung des Lagerplatzes. Der Korrsetter mußte dafür sorgen, daß ein erneutes Aufpacken auf dem Lagerplatz nicht mehr nötig war. Wenn der Kreuer die Karre umstürzte, durften die Torfstücke nicht aus dem Verband fallen. Sie mußten so fest aneinander liegen, daß der Baas sie zählen und auch die ganze Masse mit der Elle messen konnte. Von dem Pflug wurde jeden Tag eine bestimmte Arbeitsleistung gefordert. Der Baas hatte das Moor ausgemessen und durch Pflöcke gezeichnet, wie groß die einzelnen Tagewerke sein sollten. Der Pflug setzte seine Ehre daran, nicht dahinter zurückzubleiben. Der Baas rechnete nicht mit dem einzelnen Arbeiter, sondern mit dem ganzen Pflug ab. Das verdiente Geld wurde nach einer feststehenden Regel verteilt. Die Stecher bekamen mehr als die anderen. Wenn sie Glück hatten, konnten sie 40 - 44 Taler mit nach Hause bringen. Gewöhnlich blieben sie 10 - 14 Wochen in Holland. Nach Johanni durfte kein Torf mehr gestochen werden, weil er dann nicht mehr trocknete. Alle Werktage verliefen in gleicherweise in ununterbrochener schwerer Arbeit. Bei Sturm und Stille, bei Regenwetter und Sonnenschein standen die Torfgräber draußen, oft tief in Schlamn und Wasser. Wie freuten sie sich die ganze Woche hindurch auf den Sonntag. Da wurde zunächst einmal geschlafen, bis die Sonne schon hoch am Himmel stand. Dann legte man frische Wäsche an, bereitete in aller Ruhe das Mittagessen vor. legte sich wieder schlafen oder ging in das nächste Dorf und hörte andächtig dem predigenden „Domino" zu. Während der Zeit blieb einer in der Tente, beaufsichtigte den „Hund" und sorgte dafür, daß das Essen bereit war, wenn die Kameraden vom Gottesdienst zurückkamen. Am Nachmittag wurde wohl eine Wirtschaft aufgesucht, ein Gläschen Genever getrunken, Karten gespielt und von Wetter, Torf und Heimat geplaudert. Zeitig fanden sich alle zum Abendessen wieder in der Tente ein. Nach dem Abendessen legte man sich sofort zum Schlafen nieder.
Ein besonderer Festtag war es auch, wenn Nachricht aus der Heimat kam. Das geschah zweimal in den 12 Wochen. Der Bote hieß Schoppenhorst und war aus Ladbergen. Wenn er in die Nähe einer Arbeitsstelle kam, ließ man alles stehen und liegen und rannte ihm entgegen. Dann gab's ein drängendes Fragen nach Verwandten und Bekannten, nach großen und kleinen Dingen in der Heimat. Glücklich war der, dem der Bote ein Briefchen mit guten Nachrichten in die Hand drückte. Während der Bote aß, wurden ihm mündlich Bestellungen aufgetragen und mühevoll geschriebene Briefe übergeben. So wanderte er gebend und nehmend von einem Pflug zum anderen und schließlich schwer bepackt wieder in die Heimat zurück. Gewöhnlich besuchte der Ladberger Pfarrer die Leute in der Mitte der Arbeitszeit und hielt in den Teilten oder auch wohl in einer Kirche Gottesdienst mit ihnen ab. Gern sangen sie dabei das Lied: „Ach bleib mit deiner Gnade bei uns." Dann änderte er den letzten Vers und ließ sie singen „Beständigkeit verleihe, hilf uns aus dieser Not".
Als nach dem Kriege von 1870 bei uns der Wohlstand zunahm, und an der Eisenbahn und in den Fabriken Arbeit genug zu finden war, gingen unsere Leute nicht mehr nach Holland. Und das war gut. Wie viele mögen in den holländischen Mooren Kraft und Gesundheit eingebüßt haben.