(...) Als Karl der Große um das Jahr 782 erstmalig auf seinen Kriegszügen gegen die Sachsen ins Münsterland kam, fand er an der Furt durch die Aa nicht viel mehr vor als Wald und Bruch, dazwischen den einen oder anderen Bauernhof, also ein Stück der westfälischen Landschaft, wie sie sich heute noch im Münsterland mit seinen Einzelhöfen darbietet. Mit sicherem Blick erkannte Karl die strategische Bedeutung dieser Furt, durch die schon damals eine wichtige Straße aus dem friesisch-niederländischen Raum (von Deventer bzw. von Emden her) einmündete. Jenseits der Furt führte diese Straße über den Spiekerhof und Alten Steinweg bzw. die Salzstraße nach Südosten weiter in das bereits in frühgeschichtlicher Zeit bedeutende Salzgebiet um Soest und nach Paderborn, dem wichtigsten politischen Zentrum des mittelsächsischen Raumes. Vor der Aafurt, im Zuge des heutigen Prinzipalmarktes, kreuzte diese Straße eine andere, die vom Rhein, von Köln heraufkam und weiter nach Norden in den hansisch-skandinavischen Raum über Osnabrück - Bremen und Hamburg lief. Genau im Winkel zwischen diesem Straßenkreuz und der Aa steht die Domburg, von der aus das von Karl eben erst befriedete Sachsen im christlichen Glauben erzogen werden sollte. Der Bering dieser Bischofsburg an der Mimigernaford, wie die Furt durch die Aa im Volksmunde hieß, zeichnet sich noch heute in dem Straßenzug rund um den Domplatz deutlich ab.
Mit der Weihe des Missionars Liudger zum Bischof im Jahre 805 war der Grundstein für die künftige Metropole Westfalens gelegt, mehr aber auch noch nicht. Die politische Entwicklung Westfalens als Teil des größeren Herzogtums Sachsen hat in den nächsten Jahrhunderten eine echte Schwerpunktbildung verhindert. Münsterjag stets am Rande der großen Politik. Der Hellweg vom Rhein nach Sachsen hinein, von Duisburg über Dortmund, Soest, Paderborn usw. blieb die große Achse, die das politische Geschehen im hohen Mittelalter trug, soweit Westfalen in dasselbe einbezogen war.
Als im Jahre 1180 mit dem Sturze Heinrichs des Löwen das Herzogtum Sachsen zerschlagen wurde, fiel Westfalen in eine Vielzahl von Territorien auseinander und erschöpfte sich in den jetzt folgenden Jahrhunderten in lokalen und territorialen Bereichen und Interessenkämpfen. Das später so beliebte diplomatische Spiel um das sogenannte europäische Gleichgewicht findet hier Jahrhunderte zuvor, so möchte man meinen, ein mit dem Schwert geführtes, recht blutiges Vorspiel auf der kleinen westfälischen Bühne. Einen Zug zum Großen, zu einer gesamtwestfälischen Konzeption, geschweige denn zur Reichspolitik, sucht man dabei vergebens. Münster als Hauptstadt des gleichnamigen Stiftes erlebte und trug in dieser Zeit mit seinem Bischof dessen Siege und Niederlagen im Kampf mit der habgierigen Umwelt.
Größer und wichtiger war die Rolle, die Münster im Wirtschaftsleben Westfalens spielte. Sie ist allerdings von der politischen Entwicklung nicht zu trennen. Die Keimzelle dieses Wirtschaftslebens war wieder die Domburg. Als religiöser Mittelpunkt des Bistums entwickelte sie von Anfang an zentripetale Kräfte von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Zweimal im Jahre versammelte sich der gesamte Klerus der Diözese zur Generalsynode im Hohen Dom. Schon dieser rege Verkehr formte zweifellos das gesamte Verkehrsnetz des Münsterlandes um. Jetzt führte von jeder alten Pfarrkirche im Lande ein möglichst direkter Weg nach Münster.
Auf diesen Wegen kamen nun auch die ersten Kaufleute mit ihren Warenkarawanen herbei, um vor der Domburg Markt zu halten. Aus den ersten nur sporadischen Markttagen, die zur Frühjahrsund Herbstsynode gehalten wurden und deshalb „Send" hießen - dieser Name blieb den großen Jahrmärkten bis heute erhalten -, entwickelte sich dann rasch eine ständige Marktsiedlung, deren Anfänge sicherlich noch bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen. Wenn die kleinen benachbarten Marktorte wie Wiedenbrück, Meppen, Lüdinghausen damals bereits königliche Markt- und Münzprivilegien besaßen, dann hat der Bischof von Münster mindestens zur gleichen Zeit für seine Residenz vom König auch eine solche Urkunde erhalten, die ihm das Recht gab, Münzen zu prägen und einen ständigen Markt zu halten. Erhalten hat sie sich nicht, da in dem großen Stadtbrande von 1121 die älteren schriftlichen Quellen mit dem Dome und allen darin aufbewahrten Dokumenten und Schätzen verbrannten. Die bis tief ins 11. Jahrhundert zurück zu verfolgenden Münzprägungen der Bischöfe von Münster sind ohne ein solches Privileg gar nicht denkbar, ebensowenig aber auch ohne den Markt als Konsument dieses Münzschlages. Seit dem 11. Jahrhundert sind die Münsterschen Pfennige in jedem Münzschatzfund des weiten Ostseeraumes zu finden. Sie bezeugen die weitreichenden Handelsbeziehungen dieser Stadt schon zu jener Zeit, aus der uns schriftliche Zeugnisse noch fehlen. Die Anfänge und Wurzeln liegen im niederlothringischen Raum, dem blühenden und schon damals reich entwickelten Hauptindustriegebiet Europas, von wo die ersten münsterschen Kaufleute auch den Patron ihrer Marktkirche, den hl. Lam-bertus von Lüttich mitgebracht haben dürften (um 1000?), zu dessen Ehren die münsterschen Kinder noch heute ihre Lambertuslieder am 17. September, dem Festtage des Heiligen, singen. Aus dem Westen, zumeist über Köln, hatten die gleichen Kaufleute auch die Rechtssatzungen und -brauche mitgebracht, nach denen sie ihre „Kommune" vor der Domburg formten, in der nun alle Einwohner der neuen Stadt, Kaufleute, Handwerker und Tagelöhner nach einem Recht, dem Recht der Stadt Münster, lebten. Diese Stadt fand schon im Laufe des 12. Jahrhunderts jene topographische Weite, die von der Stadtmauer bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts für ihre räumliche Entwicklung bestimmt wurde. Seit dem frühen 13. Jahrhundert sind die Handelsbeziehungen Münsters in alle Welt urkundlich bezeugt. Wir finden jetzt den münsterschen Kaufmann bei den russischen Pelzhändlern in Smolensk und Novgorod ebenso gut wie auf den flandrischen Wollmärkten. Das St.-Olaf-Patrozinium zweier bürgerlicher Vikarienstiftungen in der Stadt zeugt für den Anteil der münsterschen Bergenfahrer am norwegischen Fischhandel, die Rechnungsbücher der Könige von England für ihre Beteiligung am englischen Wollhandel. Die Bezeichnung des deutschen Kaufleutegildehauses in Riga als „münstersche Stube" bzw. „Hof von Münster" zeigt, daß Münster mindestens zeitweise die führende Rolle im Ostseehandel Westfalens gespielt hat.
Ein stolzer Zeuge dieser großen Zeit ist das Rathaus am Prinzipalmarkt aus dem 14. Jahrhundert. Es hat im Laufe seiner langen Geschichte stürmische Tage gesehen, aber auch Tage von abendländischer Bedeutung. Während im Jahre 1534/35 die Söldner des Bischofs Franz von Münster vergeblich die starken Mauern der von den Wiedertäufern verteidigten Stadt berannten, tanzte ihr König, der Schneidergeselle Jan van Leiden, in der Ratsstube mit seinen 16 Königinnen. Eigenhändig schlug er einer von ihnen, der schönen Eise Wandscherer, das Haupt ab. Wenige Monate später, am 22. Januar 1536, endete er selbst mit seinen beiden Spießgesellen Bernd Knipperdolling und Bernd Krechting auf dem Schafott vor dem Rathaus. Noch heute hängen die Käfige, in denen man die drei Leichen zur abschreckenden Warnung ausstellte, am Turm der Stadtkirche St. Lamberti.
Hundert Jahre später stand Münster und sein Rathaus wieder im Blickpunkt des Weltgeschehens. Mehr als einhundertfünfzig Diplomaten aus allen Teilen Europas bemühten sich durch drei lange Jahre, die Friedensformel zu finden, die den ersten großen Weltkrieg der Neuzeit beenden sollte, der 30 Jahre lang unsagbares Elend über weite Teile Europas gebracht hatte. Am 15. Mai 1648 beschworen in der Ratsstube die Spanier und Niederländer ein Teilstück dieses Vertragswerkes, das den Niederländern die endgültige Loslösung ihrer sieben Provinzen aus dem Verband des Deutschen Reiches brachte. Durch diesen Akt ist die Ratsstube als „Friedenssaal" in die Weltgeschichte eingegangen.
Die stolze Front der prächtigen Giebelhäuser am Prinzipalmarkt, von denen nicht wenige dem 16. und 17. Jahrhundert angehörten, war ein beredter Zeuge für die ungebrochene Kraft der Stadt gerade in diesen stürmischen Zeiten. Die meisten Kirchen der Stadt, allen voran der mächtige Dom, stammen dagegen aus älterer Zeit. Der Dom, an dem man seit dem Ende des 12. Jahrhunderts baute, wurde 1263 vollendet. Er zeigt sowohl in seinen Bauformen als auch im Figurenschmuck seines Paradieses starke Anlehnungen an französische Vorbilder. Das nimmt nicht weiter wunder, da die Domherren im Mittelalter verpflichtet waren, in Paris zu studieren. Echt westfälische Hallenkirchen, die der schönsten dieser Art, St. Maria zur Wiesen in Soest, nur wenig nachstehend, sind St. Lamberti und Liebfrauen zu Oberwasser, beide im frühen 15. Jahrhundert vollendet. Der Turm der Uberwasserkirche hat weit und breit nicht seinesgleichen. Auch St. Ludgeri, an der vom 12. bis 15. Jahrhundert gebaut wurde, und St. Martini (14./15. Jh.) verdienen Erwähnung, ganz besonders aber die kleine, sehr stimmungsvolle Servatiikirche aus dem frühen 13. Jahrhundert.
Von der mächtigen Befestigung der Stadt, die zu besichtigen die Festungsbauer im 16. Jahrhundert von weit hergereist kamen, ist nur wenig übriggeblieben: ein einsamer Turm, der Buddenturm, aus der Zeit um 1200 (?), der im 16. Jahrhundert erbaute Zwinger und ein längeres malerisches Mauerstück im Süden der Stadt (zum Aasee hin), vor dem auch noch der mächtige Wall aus dem 15. Jahrhundert in voller Höhe erhalten ist. Sonst ist er rund um die Stadt ums Jahr 1770 geschleift und in eine reizvolle und einzig schöne Promenade umgewandelt worden. (...)
Zur Zeit des Westfälischen Friedenskongresses (1643) war die Stadt neutralisiert und aller Pflichten gegen den Landesherrn, ja gegen Kaiser und Reich, entbunden worden. Das stieg den Stadtvätern zu Kopfe und sie gaben sich 1648 der trügerischen Hoffnung hin, für die Zukunft wenigstens der Pflichten gegen den Landesherrn entledigt zu bleiben, d. h. daß Münster eine freie Reichsstadt würde. Der wahnwitzige Versuch, das nicht einmal so schwere landesherrliche Joch unter dem Krummstab des Bischofs von Münster ausgerechnet unter dem als Diplomaten ebenso gewiegten wie als Militär energischen und rücksichtslosen Bischof Christoph Bernhard von Galen abzuschütteln, mußte mit einem Mißerfolg enden. Er brachte der politischen Stellung und Bedeutung der Stadt nach harter Belagerung 1661 mit der bedingungslosen Kapitulation ein jähes, bitteres und endgültiges Ende.
Der Zerfall der Hanse und der katastrophale Rückgang des immer reichsten Gewinn abwerfenden eigenen Handels - man findet seit der Mitte des 17. Jahrhunderts den münsterschen Kaufmann bestenfalls noch auf den niederländischen Märkten und auf der Frankfurter Messe - ging mit der politischen Katastrophe parallel. Mit der im Mittelalter mit wirtschaftlichen Mitteln aufgebauten Vorrangstellung Münsters war es jetzt aus.
Die wirtschaftliche Blüte Münsters im Mittelalter war nun auch - wie könnte es anders sein - der richtige Nährboden, ja geradezu die Voraussetzung für eine ungeahnte Blüte auf kulturellem Gebiet. Die Malkunst spiegelt diese Entwicklung am besten wider. Um 1400 malte Konrad von Soest, der größte westfälische Maler seiner Zeit, noch in Dortmund und Soest, wenig später ging die Führung an die münsterschen Maler, deren wir seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert eine ganze Reihe mit Namen kennen, über. Die bedeutende Malerdynastie der tom Rings vertritt noch bis zum Ende des 16. Jahrhunderts eine bodenständige und reife Kunst, als im Reich längst das große Sterben der altdeutschen Kunst eingesetzt hatte. Auf dem Gebiet der Bildnerei reichte der Einfluß der münsterschen Meister, der Beldensnyder, Brabender usw. weit über die Grenzen Westfalens hinaus. Die Glocken des großen münsterschen Meisters Woher Westerhus - auch er nur letztes Glied einer bis ins frühe 14. Jahrhundert zurückreichenden Kette namhafter Glockengießer - verkündeten um 1500 Münsters Ruhm durchs ganze Land. Reges geistiges Leben herrschte in der Stadt, das nicht nur in den Lehrgedichten des Kanonikers Bernhard von der Geist (um 1250) anklingt, sondern auch in der Theaterfreudigkeit der Münsteraner zum Ausdruck kommt, die aus vielfältigen Quellen (Mummenschanz der Zünfte und Brüderschaften, Fastnachtsbrauchtum) gespeist wurde. Kein Wunder, daß im Jahre 1485 der Domschulmeister Johannes Kerckmeister im Impressum seines Theaterbüchleins „Codrus" — übrigens der erste Druck einer münsterschen Druckerei überhaupt — seine Vaterstadt stolz „die Stadt Westfalens" nennt, die „durch ihren unsterblichen Namen für alle Zeiten berühmt" sei. Der Domscholaster Rudolf von Langen, der führende und größte Kopf des christlichen Humanismus in Westfalen, wandelte im Jahre 1500 die alte Domschule, das Paulinum, in eine humanistische Anstalt um. Stille Wegbereiter seines Wirkens waren die Brüder vom gemeinsamen Leben (Fraterherren) gewesen, die schon im Jahre 1400 nach Münster gekommen waren. Das Paulinum wurde nun die Pflanzstätte für den Humanismus in ganz Westfalen. „Wie aus einem trojanischen Pferd", sagt der bekannte westfälische Historiker des 16. Jahrhunderts, Hermann Hamelmann, „gingen aus der Anstalt hochgelehrte Männer ohne Zahl hervor, die hier und dort in Westfalen, Sachsen und Niederdeutschland Schulen eröffneten und die Barbarei ausrotteten." Selbst Professoren in Wittenberg, Leipzig und Kopenhagen hatten an der Domschule in Münster die Anfangsgründe humanistischer Bildung genossen.
Kein Wunder, daß eine geistig so rege Stadt auch schon früh Schauplatz religiös-reformatorischer Auseinandersetzungen wurde und dann auch jene weltfremden Schwärmer anzog, deren Führung letzthin ehrgeizige Demagogen und verbrecherische Gewaltmenschen an sich rissen, die das echte religiöse Anliegen des Täufertums geschickt mit den sozialen Nöten des in einer Stadt vom Range Münsters stets vorhandenen Proletariats zu verknüpfen wußten. Sie hoben 1534 jenes „Himmlische Jerusalem" aus der Taufe, mit dem dann ein Jahr später fast alle Zeugnisse des einst so blühenden kulturellen Lebens der Stadt untergingen.
Der Wiederaufbau der kulturellen und wirtschaftlichen Position Münsters ging nach 1535 in einem geradezu atemberaubenden Tempo vor sich. Die geistige und religiöse Renaissance stand dagegen im Schatten der Glaubenskämpfe. Erst nach der Übernahme des Paulinums durch die Jesuiten (1588) wurde Münster wenigstens wieder der religiöse Vorort des katholisch gebliebenen bzw. rekatholisierten Westfalens. Ganz ungezwungen fügt sich in dieses Bild der geistigen Renaissance das Streben Münsters nach einer eigenen westfälischen Landesuniversität. Die Ungunst der Zeit hat den 1630/31 schon bis zur kaiserlichen und päpstlichen Privilegierung gediehenen Plan nicht reifen lassen. Der wirtschaftliche Niedergang der Stadt hat sich wie ein Rauhreif auf das geistige Leben der Stadt gelegt. Von einer ganz Westfalen beherrschenden geistig-kulturellen Leistung der Stadt kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Der Ausspruch des bekannten Friedensgesandten Adam A d a m i, daß es den Münsteranern eigen sei, daß arm und reich wissenschaftliches Streben habe und man nicht leicht in Münster einen Handwerker finde, der nicht Latein schwätze, vermag dieses Urteil nicht zu erschüttern. Der sich ziemlich schnell durchsetzende Strukturwandel der Stadt von der blühenden und geschäftigen Handelsmetropole Westfalens zur behäbigen und etwas verschlafenen Residenzstadt ließ kaum noch Platz für ein reges geistiges Leben. Es lag wohl auch daran, daß die prachtliebenden und aufwendig lebenden unter den Bischöfen Münsters jetzt zugleich auch meist Erzbischöfe bzw. Kurfürsten von Köln waren und deshalb immer nur vorübergehend und kurzfristig in Münster residierten. Dafür zogen nun immer mehr Adelige, im Kriegsdienst oder in der Diplomatie reich geworden, in die Stadt, weil sie hier für die Wintermonate in ihren aufwendigen Stadtwohnungen mehr Komfort fanden als in ihren kalten und zugigen Landsitzen und Burgen. Die besten Architekten Münsters, wie Hermann tom Ring, die beiden Pictorius, Corvey, Schlaun, Lipper und Boner wetteiferten mit- und nacheinander, um die Kurien der Domherren und die Höfe des Adels immer prächtiger zu gestalten. Das von Schlaun 1767/75 für den Bischof gebaute Schloß hat in ganz Nordwestdeutschland nicht seinesgleichen. Diesen Bauten und ihrer Wohnkultur verdankte Münster den Ruhm, die vornehmste aller deutschen Städte zu sein. (...)
Erst der geniale Minister Franz von Fürstenberg rückte Münster wieder in den Blickpunkt der Welt. Seine 1773 gegründete Universität fand selbst im hochgelehrten Göttingen Anerkennung. Der von ihm und der Fürstin Gallitzin geschaffene Kreis der „familia sacra" war keineswegs, wie man früher wohl gemeint hat, ein Kreis frömmelnder Kränzchendamen und ihrer Verehrer, sondern, wie wir jetzt wissen, eines der wenigen geistigen Zentren Deutschlands aus der Zeit der Aufklärung, das als Hort einer christlich verstandenen Aufklärung eine wichtige Brücke zur Romantik des frühen 19. Jahrhunderts zu schlagen berufen war. Auch wenn man von der großen Annette von Droste-Hülshoff absieht, die mit ihrem tiefsinnigen dichterischen Werke Münsters Namen weit über Westfalens Grenze hinaustrug — sie prägte das herzhafte Wort „et giew men en Monster" — haben doch auch die „Epigonen" der „familia sacra" wie etwa die Philosophen Zumkley, Kistemaker und Schlüter, daneben dann so manche Mitglieder der Universität (Akademie) wie der Mathematiker G e r z, der Astronom H e i s s, nicht zu vergessen der große Physiker H i t t o r f, selbst der schrullige L a n d o i s mit seinem 1875 gegründeten Zoologischen Garten und Jostes mit seinem westfälischen Trachtenbuch (1904) das ihrige dazu beigetragen, dem Namen der Stadt Münster in den geistigen Bereichen der Nation einen guten Klang zu bewahren.
Eines der Lieblingskinder Fürstenbergs war das Theater, von ihm im Jahre 1775 in der Meinung geschaffen, daß nächst der Kanzel auch von den Brettern der Bühne eine eindringliche Sprache auf das Gemüt der Menschen geredet werden könne. Es bildete neben der Universität einen wesentlichen Faktor im Kulturleben des damaligen Münsters, der bis in unsere Tage nichts von seiner Wirkkraft eingebüßt hat. Es zehrt nicht nur vom Ruhme der Vergangenheit, als Männer wie Albert L o r t z i n g, die beiden Pichler, Niedecken-Gebhard, Kurt J o o s u.a. hier wirkten, sondern hat sich mit Mut und Geschick auch dem Neuen zugewandt. Die Entdeckung des französischen Existentialisten Gabriel Marcel für die deutsche Bühne ist z. B. ein Verdienst des münsterschen Theaters. Der großzügige Neubau desselben gilt als befreiender „Donnerschlag" in der festgefahrenen deutschen Theaterbaukunst. Auch das blühende Musikleben, das in den Namen Julius Otto Grimm und Hans R o s b a u d ein verpflichtendes Erbe zu hüten hat, trägt dazu bei, Münsters Ruhm als altes Kulturzentrum zu wahren.
Die Preußen haben Münster 1815 zur Hauptstadt ihrer Provinz Westfalen gemacht und damit ein neues Blatt in ihrer tausendjährigen Geschichte aufgeschlagen. Nach dem Urteil der Annette war Münster „nie so glänzend, wie jetzt, da alle höheren Zivil- und Militärbehörden der neuen Provinz hier weilen". In der Tat war Münster im 19. Jahrhundert fast ausschließlich eine Behördenstadt geworden, soweit nicht die katholische Hierarchie mit dem türmereichen Kranz ihrer Kirchen und mit ihrer Geistlichkeit immer noch das Stadtbild beherrschte. Durch diesen Akt der preußischen Zentralverwaltung von 1815 blieb der Stadt die Vorrangstellung in Westfalen gesichert, auch in einer Zeit, in der sie wirtschaftlich durch die wie Pilze aus der Erde schießenden Industriestädte des Ruhrgebiets schnell überholt wurde. Auch ohne die Finanzkraft einer eigenen Großindustrie wuchs Münster bis zum ersten Weltkrieg zur Großstadt heran.
Erst der Ausbau der von den Preußen zugunsten der 1818 gegründeten Universität Bonn zunächst arg verstümmelten Universität Fürstenbergs zur Volluniversität in den Jahren 1902/25, an dem die Stadt unter erheblichen Geldopfern lebhaften Anteil nahm, unterstrich wieder und verstärkte in ganz außerordentlichem Maße dieses Gewicht Münsters als Hauptstadt Westfalens nach der kulturellen Seite.
Die große Bewährungsstunde der alten Kulturstadt als Hort der geistigen Freiheit und der angestammten tiefverwurzelten Religiosität schlug, als der Ungeist des Nationalsozialismus seine Geißel über deutsche Lande schwang. Die Seele des Widerstandes, Bischof Clemens August, Kardinal von Galen (+ 1946) ist der Welt das Symbol des anderen, besseren Deutschlands geworden. Aus der Schar der Getreuen, die ihm in diesem Kampf zur Seite standen, seien hier wenigstens der Philosoph Peter Wust und der Domprediger Adolf D o n d e r s genannt.
In dem Zusammenbruch von 1945 hat Münster so seine geistige Substanz, seine Seele gerettet. Sie ermöglichte den Wiederaufbau der Stadt als echtes Kulturzentrum Westfalens. (...)